„El hermano a dicho que no. Que no pueden llevar a Luis.“ Die Worte der Sekretärin Melvis hallen mir immer noch im Kopf nach. Immer noch fühlen sie sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Leicht zögerlich und verstohlen leise, so als wäre selbst ihr das Verhalten des Hermanos peinlich, hatte sie mir im Auftrag meines und ihres Vorgesetzten mitgeteilt, dass Eva, Lewin und ich nicht den geplanten Ausflug mit Luis-Carlos würden unternehmen dürfen. Seit er vor gut drei Monaten aufgrund seiner Querschnittslähmung nach einer Schussverletzung und den aus den nachfolgenden Jahren schlechter Versorgung und Bettlagerung resultierenden tiefen Wunden in den Hogar eingeliefert worden ist, hat ihm Hermano Antonio kaum eine Gelegenheit gegönnt, die Welt hinter den zwei Meter hohen Mauern zu sehen. Mehrmals hatte ich ihn bereits gebeten, den in den Rollstuhl gezwungenen Jungen meines Alters wenigstens nach Cotoca fahren zu dürfen, aber die Antwort fiel stets gleich aus. Mit der unveränderlich verschlossenen und unberührbaren Mine wurde ich streng wiederholt darauf hingewiesen, dass die Wunden, die ich wöchentlich selbst helfe zu reinigen, zu anfällig seien, um einem anderen Umfeld, als dem des Hogargeländes ausgesetzt zu werden. Man könnte diese Begründung akzeptieren, könnte versuchen, Luis die Situation zu erklären, ihn aufzumuntern, und letztendlich im Stillen bedauern, was für Möglichkeiten, was für Erlebnisse ihm somit in seinem jugendlichen Alter genommen werden, wäre nicht die professionelle Meinung der Ärzte. Ausnahmslos alle sehen sie kein Problem in einem derartigen Vorhaben, mehr noch, sie befürworten es. Heilung ist kein rein physischer Ablauf, Heilung geschieht über Körper und Geist. Jeder Arzt weiß das und jeder medizinische Laie erkennt, dass es nicht gesund sein kann, einen intelligenten jungen Mann drei Monate einzusperren in ein Gefängnis, in dem die einzigen Menschen, zu denen er jederzeit Kontakt aufnehmen kann, behindert sind, seine Hauptbeschäftigung aus dem Auswendiglernen der Senderfolge des Kabelfernsehers besteht und er ohnehin für die essentiellsten Menschenbedürfnisse auf beschämende Hilfe angewiesen ist, ständig im Wissen um ein Leben mit zwei funktionierenden Beinen, ein Leben vor der Kugel in den Nervenbahnen seines Rückenmarks.
Vor ein paar Tagen saßen wir gemeinsam in der Mittagspause auf unserer kleinen Terrasse. Bei dem üblichen eiskalten Wasser, das unser leicht schizophrener Kühlschrank auf knapp über null Grad frostet, konnte Luis während einem seriösen Gefachsimpel über die Besonderheiten des Reggueton nicht mehr an sich halten und platzte glücklich heraus, dass er mit Virgenia, einer neuen jungen Ärztin, die den sich in den USA spezialisierenden Dr. Bernardo abgelöst hat und seit mehr als einem Monat nun schon im Hospital arbeitet, demnächst seinen ersten Kinobesuch verbringen würde. Eine tolle Idee und angesteckt von seiner Begeisterung beschrieb ich ihm, wie wir alle gemeinsam mit ihm die Glastüren des Cinecenters, des größten Kinos in Santa Cruz, durchschreiten, an den unzähligen kleinen Ständen erst Pizza, dann einen Burger und als gesunde Abrundung ein Eis mit Caramelsauce verdrücken, in den Spielhallen uns im Autorennen messen und letztendlich in den großen weichen Couchsesseln vor der flimmernden Leinwand genüsslich ausstrecken würden. Gleich am nächsten Tag machte ich mit Virgenia den nächsten Sonntag für die Mission „Luis im Cinecenter“ aus.
Der Plan stand fest. Nur eine Komponente hatten wir nicht einberechnet. Eine Komponente, die sich hinter einem schweren Holzschreibtisch verschanzt, die Leute von der Sekretärin durch ein Mikrofon zu sich rufen lässt und mit dem Auftreten und der Stimmlage eines kolumbianischen Drogenbarons beispielsweise einer Dr. Virgenia verkündet, dass jede nächste ärztliche Verordnung und Behandlung zunächst von ihm schriftlich erlaubt werden muss und kein enger persönlicher Kontakt zu den Patienten erwünscht ist. Natürlich, die Behinderten sind Arbeitsobjekte, eine Beziehung zu ihnen aufbauen, oder gar Freundschaften schließen, das würde doch … was, das würde was? Ihnen ein Gefühl geben, geborgen zu sein? Willkommen in der Gesellschaft? Ist es nicht unsere Aufgabe ihnen genau das zu vermitteln? Uns mit einem Juan-Carlos zusammensetzen und ihn für seine Versuche ein Schiff zu malen zu loben? Uns gemeinsam mit einem Reynaldo über die Bastelfortschritte zu freuen und ihm einen neuen Kniff zu zeigen? Beeindruckt dem Singen und dem Geklimper auf der Gitarre eines Pepé knapp am dissonanten Limit auf unserer Terrasse zu lauschen? Einem kleinen José das Laufen beizubringen und eine Susi zu weiteren Sprachversuchen zu animieren? Sind wir nur hier, um Tag für Tag stumm und stupide die Niños aus dem Bett zu heben, ins Bad zu bringen und ihnen den Frühstücksbrei in den Mund zu schieben, unsere festgelegten Pflichten bei der Zahnärztin, in der Physiotherapie oder in der Logopädie zu erfüllen? Wie soll man sich erklären, dass alles was darüber hinausgeht, unerwünscht ist?
Beim Wali-Spielen am Abend suchten Virgenia und ich nach Lösungen. Die einzige Möglichkeit lag auf der Hand, wir würden Luis mitnehmen und Virgenia erst im Kino treffen. Wie dann allerdings die Antwort des Hermano Antonio auf meine Bitte hin ausfiel, habe ich ja bereits geschildert. Als ich Luis die Worte des Vorgesetzten ausrichte, habe ich das Gefühl als würde eine Klappe hinter seinen Augen fallen. Ohne ein Wort fährt er auf seinem klapprigen Rollstuhl weg.
Ich kann diesen, unseren Chef nicht begreifen. Diesen Chef, der mir nach einem plötzlichen Meinungswechsel die Arbeit in der Granja mit den Straßenkindern in ruppigem Ton verbietet und unsere Renovierungsaktion des Hogargrabes auf dem Friedhof von Cotoca mit den Worten „Das hatte ich euch aber nicht gestattet“ würdigt. Dafür wissen die Mitarbeiter die drei Tage Putz- und Malarbeiten in praller Sonne zu schätzen, bemitleiden uns für den Sonnenbrand, der mich in den folgenden zwei Wochen das Gefühl einer Schlange beim Häuten lehren sollte, und ermuntern uns mit einem verbundenen Lächeln uns nicht von der Meinung des „Dictador“, wie der Hermano kürzlich von einer Mitarbeiterin genannt wurde, zu sehr beeinflussen zu lassen. Es war ein erhebender Moment für jeden von uns, als wir nach unseren zwei Wochen Urlaub nach Weihnachten über das neue Jahr von strahlenden Gesichtern, einer festen Umarmung der Schichtleiterin Beatrice und mit den Worten „es ist gut, euch wieder da zu haben“ empfangen wurden. Selbst die Niños rannten lachend auf uns zu. Man hatte uns vermisst. Man ist dankbar für unsere Hilfe. In den Tagen unserer Rückkehr habe ich gemerkt, wie glücklich sowohl Mitarbeiter als auch Behinderte mit jeder Minute sind, die wir mit ihnen teilen. Ich fühle mich wie zu Hause auf diesem Gelände und kann mittlerweile auch mal schmunzelnd darüber hinwegsehen, dass ich mein verloren geglaubtes Wörterbuch im Bett von Juan-Carlos wiederfinde oder durch „Hola, Daniel! Que haces?“ (Hallo, was machst du?) von einem an unserem Fenster über beide Backen grinsenden Gesicht beflügelt von zwei Segelohren geweckt werde. Auch Luis kommt gerne an unseren Zimmern vorbei. Wir reden von der Welt, die er wohl nie sehen wird, erzählen von unseren Ausflügen und Abenteuern und lauschen dann gespannt dem, was er zu schildern weiß von seinem Leben auf der Straße. Dem eines Jungen mit verklebter Moglifrisur zwischen den Geschäften großer Drogenbarone, kleinkrimineller Handlanger, einfacher Straßenverkäufer oder Fensterputzer, und bewaffneter Banden, eben den Schicksalen aus den Vierteln, denen Polizei, Zeitung und Stadtrat weniger Beachtung schenken.
Marodierende Banden, skrupellose Morde und Drogenumschlagplatz Nummer 1 in Bolivien – solche Flecken kann der Ruf einer aufstrebenden Stadt, die sich von dem „wüsten“ Altiplano, dem „unzivilisierten“ Hochland abheben möchte, nicht gebrauchen. Tatsächlich hatte ich erst in La Paz, dem bolivianischen höchsten Regierungssitz der Welt, dem kompletten Gegenstück zu Santa Cruz, mit seinen unverputzten Häusern, seinem von Indígenas bestimmten Straßenbild, seinen eisigen Temperaturen und seiner kesselartigen Lage in den Bergen, zum ersten Mal den Eindruck meinen Freiwilligendienst in dem ärmsten Land Südamerikas zu leisten. Selbst staubige und ungeteerte Straßen, rissige Lehmhäuser, von Fliegen bevölkerte stinkende Müllhaufen und streunende, schmutzige Hunde in der Umgebung der Millionenstadt Santa Cruz, dem Orientstern Boliviens, in Cotoca und ähnlichen Dörfern können es nicht mit den Bildern aufnehmen, die sich in meinem Kopf aus den Reisen nach Afrika oder Südostasien eingebrannt haben. Erst wer einen tieferen, einen zweiten Blick in die zerfurchten Gesichter, in die leeren, müden Augen wagt, dem wird der harte Alltag vieler Familien bewusst.
In La Paz, vor allem aber in El Alto ist die Armut offensichtlich. Für den Durchschnittstouristen taucht El Alto höchstens in der Beschreibung der Flughafenlage auf. Die Reiseführer haben kaum ein Wort übrig für die Stadt, die man 4000 Meter über den Meeresspiegel an den Kesselrändern von La Paz aus dem Boden gestampft hat, um den massenhaften Einwanderern aus den umliegenden Bergen, Dörfern und Städten Herr zu werden. Gepeinigt von der den unverhältnismäßigen Bemühungen dem steinigen, kargen Hochland etwas Ernte abzuringen oder auf der Flucht vor den tödlichen Arbeitsbedingungen in den dunklen, einsturzgefährdeten und staubigen Schächten der Minen von Potosí, zieht es viele Aymara oder Quechua nach La Paz und jenes indianische Erscheinungsbild prägt die steilen, die Berge hinaufkletterten Straßen. Die weiten, durch mehrere Unterröcke aufgebauschten Kleider, die langen, kunstvoll geflochtenen, schwarz glänzenden Zöpfe, die kleinen Hüte, etc. Das gibt mit der kolonialen Kulisse im Regierungsviertel und den sich im Hintergrund die Berge hochziehenden, unverputzten und planlos übereinander gebauten Häuserreihen eindrucksvolle Fotos auf der Spiegelreflexkamera der Europäer oder Amerikaner, die die Höhenkrankheit nicht scheuen und die kurvige Busfahrt die Anden hinauf oder den deutlich ungemütlicheren schaukeligen Steigflug vom Tiefland aus auf sich nehmen. Durch die Linse ist es leichter zu übersehen, leichter die Gedanken zu verdrängen, die die barfüßigen Füße bei winterlichen Temperaturen hinterfragen oder die verschmutzte Kleidung im Straßengraben spielender Kinder zu genau bewerten. Wer einmal in El Alto war, den kann selbst ein Hightechobjektiv nicht mehr vor den schockierenden Eindrücken schützen.
Als Eva, David, einer unserer deutschen Freunde und Mitfreiwilligen aus Cochabamba, und ich am Neujahrsmorgen durch die schlammigen Straßen laufen, die Jacken bis zum Kinn zugezogen, den Schal eng um den Hals geschlungen und die Hände in den Taschen vergraben, wechseln wir weniger Worte als sonst. Wir passieren kleine klapprige Metallparzellen, zugewiesene 3m2 – Wohnungen, vor denen angetrunkene, breit gebaute Bolivianerinnen gehobenen Alters um ein kleines, wärmendes Feuer herumsitzen, stolpern an schwer bewaffneten Polizeipatrouillen und verlausten, kläffenden Hunden vorbei und zwängen uns durch enge Gassen zwischen chaotisch angeordneten Ständen. Die wenigen, die geöffnet haben und deren Besitzer nicht den Kater der Silvesternacht ausschlafen, preisen Waren von selbstgewebten Stoffen, Pullis oder Mützen aus Lamawolle und feuchter, angeschimmelter Second-Hand-Kleidung. über Alltagsgegenstände aus China und selbst zubereitetes Essen, bis zu Wahrsagerei und dem entsprechendem traditionellen Zubehör mal stumm, mal ähnlich dem Replay-Band eines Audiorekorders aufgeregt schreiend zum Kauf an. Uns dreien stockt der Atem, als wir an einem der Stände Lama- und kleine Schweinsföten erblicken. Fein säuberlich aufgereiht hängen sie auf einmal vor uns. Eva geht zügig weiter, das Gesicht bleich und voller Ekel, augenfällig kurz vor der Kapitulation vor einem rumorenden Magen. Ich versuche meine Abneigung für einen Moment zu verdrängen, von meiner allzu leicht lesbaren Stirn zu wischen und frage die indigene Ladenbesitzerin möglichst freundlich und aufgeschlossen interessiert, wofür die denn gut seien. Offensichtlich waren meine Anstrengungen meinen Widerwillen zu verstecken vergebens, denn diese Aymarafrau weigert sich nun ihrerseits mit einer recht ähnlichen Abscheu mir zu antworten. Sie schickt mich weg.
Weiße sind hier nicht willkommen. Noch existieren die Erinnerungen an die Kolonialverbrechen, an die Ausbeutung ihres Landes durch die Spanier und internationale Konzerne, die Verfolgung und Vertreibung zahlreicher indigener Familien. Es spricht schon für sich, dass erst vor einem knappen Jahrzehnt der erste indigene Präsident in dem zu 70% indianisch bevölkertem Land an die Macht gekommen ist. Wir haben uns mit unserer Geschichte Mauern in den Köpfen gebaut und es wird wohl noch eine Weile brauchen, bis diese vollkommen abgerissen ist. Ich gebe nicht auf und probiere es an dem nächsten Laden. Glücklicherweise kann man sich in Bolivien auf allgemeine Inakzeptanz und Missachtung jeglicher kapitalistischer Denkweisen oder eines profitgesteuerten, marktwirtschaftlichen Konkurrenzverhaltens verlassen. Brüderlich und einig reiht sich ein Schuhgeschäft ans andere, in der nächsten Straße werden stets die gleichen Pullis verkauft, am Plaza in der Stadt kann man der Masse an Eisdielen nicht entkommen und in meinem Fall, in El Alto, stehe ich nicht vor einem einzelnen Traditionsladen, sondern vielmehr in einem wahren Lamafötenfriedhof. Ich brauche also nur ein paar kurze Schritte durch den Morast der Straße zu machen. Diesmal habe ich tatsächlich Erfolg. Trotz meiner weißen Haut eines Kolonialenherren, meines arrogantes Auftreten eines Europäers und meines prallgefüllten Geldbeutels werde ich entgegenkommend ausführlich über den Verwendungszweck toter ungeborener Tierbabys aufgeklärt. „Gegen Geister“, ist die Antwort, die mir in einem schlechten Spanisch hingeworfen wird. Angeblich stehe in der Gegend von La Paz kein Haus, unter dem kein Lamafötus begraben worden wäre, lese ich später in einem Artikel über die Millionenstadt in den Anden. Hier leben die alten, indianischen Traditionen noch, werden von den unzähligen Einwanderern und Landflüchtigen von ihren entlegenen Dörfern mitgebracht. 32 verschiedene Sprachen sind in Bolivien offiziell anerkannt, 32 verschiedene Kulturen, Lebensweisen, Wertevorstellungen und Rechtssysteme. In den Städten in den Anden sammeln sie sich bis sie in einer schmierigen Suppe nicht mehr auseinander zuhalten sind und einen völlig neuen Geschmack entwickeln.
Wir kommen an einem Hang vorbei, an dem sich die Wellblächdächer der regelmäßig von Erdrutschen zerstörten Backsteinhäuser wie Stufen ins Tal nach La Paz hinunterklettern. Tief unten lassen sich die Hochhäuser des Zentrums ausmachen. Wir bleiben gefesselt stehen, genießen den eindrucksvollen Ausblick. Nicht schön, aber überwältigend. Nicht nur durch die Höhe kann einem La Paz sprichwörtlich die Luft abschnüren. Als ich mich nach rechts zum gehen wende, in meine Gedanken versunken, erschüttert von der Ungerechtigkeit und der Ungleichheit von oben und unten, von El Alto und La Paz, stockt mir plötzlich wirklich der Atem. An einem Laternenpfahl eine Leiche – Nein, eine Puppe, aufgehängt. Eine Warnung an Diebe und Mörder. 32 Rechtssysteme. In El Alto regiert die Selbstjustiz. Jährlich werden unschuldige Menschen verbrannt, gesteinigt oder auf ähnliche grausame Weisen von dem aufgebrachten Mob zur Rechenschaft gezogen. Das entspricht so gar nicht den ursprünglichen Vorstellungen von Recht in den indianischen Kulturen. Der Schwerpunkt der Bestrafung soll auf der Friedenswahrung bzw. -wiederherstellung liegen und nicht für Vergeltung sorgen. Ausgleich und Harmonie sind das Ziel, das auch durch die drei großen und wichtigsten Gesetze der indigenen Völker gestärkt werden sollen. 1. Nicht lügen. 2. Nicht stehlen. 3. Nicht faul sein. Die Justizministerin, selbst Aymara, nennt in einem Interview als Beispiel für die indigene Rechtsprechung ein Dorf, in dem ein Mann aus Neid einen Familienvater ermordet, der essentiell für den Lebensunterhalt seiner Frau und seiner Kinder war. Man regelte die Angelegenheit, indem man den Mörder zu 25 Jahren Arbeiten für die Familie des Opfers verurteilte. Ungewohnt für europäische Ohren wird einem erst angesichts der ländlichen und armen Umgebung, wo eine Art Lebensversicherung nicht existiert, bewusst, welcher Wert hinter derartiger Gerichtsbarkeit steckt. In einer Millionenstadt wie El Alto ist für Ordnung sorgen jedoch nicht leicht. Die Polizei verfügt nur über acht Streifenwagen, allein die Verfassung zählt über 90 000 Seiten. „Viele Köche verderben den Brei“ lautet das bekannte Sprichwort. In Bolivien sind es 32…
Müde von jenen schweren Eindrücken und die Bilder vor dem inneren Augen flackernd, wünsche ich mir auf der 5€ billigen und entsprechend holprigen Rückfahrt von La Paz nach Santa Cruz über Cochabamba nichts sehnlicher, als endlich zu schlafen. Doch dann erhebt sich ein Fahrgast und preist im Tonfall einer Mediamarktwerbung Beutel mit einem Tee an, nach dessen wundersam heilenden Wirkstoffen europäische und amerikanische Mediziner schon seit Jahrhunderten forschen. Ich bin genervt, stecke mir meine Kopfhörer ins Ohr und schaue aus dem Fenster. Grüne, bewaldete Berge ziehen vorbei, dazwischen kleine Flüsse und Bäche. Wunderschön! Durch die Filmmusik von Invictus dringt schwach die Oliver-Pocher-Stimme, die meiner Nachbarin für 20 Bs eine Tüte Zaubertrank verkauft. Ich höre gerade noch, wie Medikamente als „chemisches Gift“ beschrieben werden, Ärzte als Quacksalber verpönt und die von Gott gegebene Natur als einzig wahres Heilmittel manifestiert wird. Das langt! Natürlich sollte man Medikamente mit Umsicht einnehmen und traditionelle Naturmedizin hat beispielsweise in Peru mit Chinin eine erste Lösung gegen Malaria hervorgebracht, aber die wissenschaftlichen Erfolge, Erkenntnisse und Methoden der Schulmedizin als ungesund darzustellen, um die eigene Ware leichter verkaufen zu können, das ist Verbrechen, wenn man so will sogar Mord. Ich drehe mich zu meiner Nachbarin um und bitte sie, diesem Teil des Vortrags des Mannes keinen Glauben zu schenken und lerne schnell, warum gerade in einem Land wie Bolivien Naturelles, von Gott Gegebenes auf ausgebreitete Arme trifft. Im Gespräch mit der in die Jahre gekommenen Dame schildert mir sie ihre konservativen religiösen Vorstellungen und bleibt völlig verständnislos, als ich ihr die Bibel aus meiner Sicht als Ansammlung von überwiegend metaphorisch gemeinten Lehren beschreibe. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass sie sich überhaupt nicht in die neue Theologie hineindenken möchte. Aber als sie schließlich an dem Punkt angelangt ist, an dem sie ihre Überzeugung äußert, dass bald Jesus mit dem Jüngsten Gericht als Retter der Welt und der Menschheit, als Richter zwischen Gutem und Bösem auf die Erde kommen würde, da höre ich einfach nur noch zu, im Bewusstsein, dass ihre Auslegung der Bibel ihr Hoffnungsträger ist, an den sie sich klammern kann, der einen Ausweg aus all dem Leid und der Armut verspricht. Nur eines versuche ich ihr noch einmal zu vermitteln: Gott verurteilt sicher keine Medizin, die über die letzten Jahrhunderte für die Rettung von mehr und mehr, von unzähligen Menschenleben verantwortlich geworden ist. Sie lächelt ergeben und schläft irgendwann ein. Und auch ich genieße die eingekehrte Ruhe, stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und versinke getragen von der Filmmusik aus meinem iPhone in Gedanken und Erinnerungen an die Erlebnisse der letzten Wochen, der Vorweihnachtszeit, Heilig Abend und Silvester.
Noch vor wenigen Stunden hatte ich hoch in der Luft geschwebt, Loopings gedreht und mit Adlern gewetteifert, an Seilen aufgehängt unter einem vom Wind gespannten Synthetikstoff. Noch vor ein paar Tagen war ich von dem höchsten Regierungssitz der Welt aus auf einem klapprigen Mountainbike auf dem berüchtigten „Camino de la Muerte“ – besser bekannt als die „Death Road“ – herunter gerast, 2000 Höhenmeter hinabdonnernd, durch alle nur erdenklichen Klimazonen. Noch vor weniger als einer Woche hatte ich die Neujahrszeit in La Paz verbracht, der atemberaubenden Großstadt in den Anden. In meinem Kopf flimmert ein Großleinwandkino, ein Film läuft voller Erinnerungen an einen wunderschönen, unvergesslichen Jahresbeginn. Allein die Szenen des Silvesterfestes an sich sind Oskarreif. Ein malerischer und würdiger Wechsel ins 2012er.
Am 31. Dezember 2011 betrete ich um circa 22 Uhr das Hostel República in La Paz. Während ich mit meinem Vater den Dschungel erkundet hatte, waren Lewin, Eva und unsere Cochabamberer Julia, Lewins frische Freundin Corinna und David bereits vorgefahren. Das Hostel República war ihre Absteige geworden. Es hat mich einige Zeit, einen Haufen Geduld, einen verwirrten Anruf und 50 Bolis gekostet, um dorthin zu gelangen. Ein Missverständnis und eine falsche Adresse haben mir an meinem ersten kompletten Tag in der Megacity auf über 3000 Metern eine ausführliche Sightseeingtour von einem Taxi aus beschert und so komme ich erst spät, aber voller Unternehmungsdrang und mit feuriger Vorfreude endlich in der Unterkunft meiner Freunde und Mitstreiter an. Vielleicht ist es allerdings auch die Wirkung des Medikaments, das ich gegen die Höhenkrankheit eingeworfen habe, die mich derartig berauscht. Bis heute weiß ich nicht, was ihr Inhalt, ihr Wirkstoff war, bin mir aber sicher, das er in anderen Nationen unter die Liste illegaler Drogen fallen oder zumindest als „gesundheitsgefährdendes“ Aufputschmittel verpönt sein würde. Eine kleine rotweiße Kapsel eingenommen, die Kopfschmerzen, der Schwindel, die Müdigkeit, schlagartig verschwunden, stattdessen eine Energie in mir, als hätte ich ein Atomkraftwerk verschluckt. Das Blut pocht in meinen Ohren, ein Gefühl, als schlügen zwei Herzen in meiner Brust. Ich könnte Bäume ausreißen, den nächsten 6000er besteigen oder Silvester in La Paz feiern. Sie will raus, diese Energie, diese tickende Zeitbombe möchte explodieren, Dampf ablassen.
An der Rezeption präsentiere ich mich als David Sowa. Keiner erkennt dessen Doppelexistenz im deutschen „Fünfer“-Zimmer, das bereits bei meiner Ankunft weniger den Eindruck eines Zimmers macht, als den einer Wohngrotte mit provisorischer Minibar auf dem Fensterbrett, benutztem Frühstückstisch und -boden, und flohmarktähnlichen Zuständen auf den Bettlagern. Nach Silvester sollte sich die Lage katastrophal verschlimmern. Zunächst, stürmische Begrüßungen, kurzer Überblick über die getrennt verbrachte Zeit, Anstoßen aufs Wiedersehen. Ich lade noch schnell meine Sachen auf die letzte freie Matratze, dann kommt der große Moment. Lewin klappt seinen Laptop auf, Julia legt die DVD ein und auf dem Bildschirm erscheint in schlierigem Grauweiß ein weißhaariger Butler an einem Bartresen, ein Tigerfellteppich, ein gedeckter Tisch für fünf Personen und eine Dame gehobenen Alters. Dinner for One. Selbst hier können wir die gute alte Tradition beibehalten und lassen sogar eine Gruppe Argentinier aus dem Nachbarzimmer an unserem Einstieg in eine lange letzte Nacht des Jahres 2011 teilhaben. Wir sind uns nicht ganz sicher, ob dieser Eindruck deutscher Kultur bleibende Spuren oder Bewunderung hinterlässt, Spaß haben wir jedoch allemal. Der Film endet. Die Uhr zeigt 23.43 Uhr. Wir hasten hinaus. Arm ausstrecken. Da, ein Taxi hält an. „Zum Aussichtspunkt, bitte! Und beeilen sie sich!“ Wir erreichen ihn rechtzeitig, stehen gemeinsam auf der Plattform in Vorspannung auf die magische Uhrzeit, überwältigt von dem Anblick der sich uns bietet, emotional höchstgeladen. Die Gedanken wandern zu unseren Familien, Verwandten und Freunden in der Heimat, zu denen, mit denen man für gewöhnlich diese speziellen Augenblicke geteilt hat, an diejenigen, die man trotz aller Begeisterung und Abenteuer vermisst, die man am meisten schätzt und denen man jetzt für fünf Stunden ein Jahr hinterherhinkt. Vor uns breitet sich La Paz aus. Die Lichter der Häuser wandern die Hänge hinauf und scheinen quasi nahtlos in den klaren Nachthimmel der Berge überzugehen, fast als würden sie wie ein Spiegel die Sterne reflektieren wollen. Es ist kurz vor 12, zumindest auf meinem Handydisplay. Einige Bolivianer sind offenbar anderer Meinung. In Bolivien ist ein Countdown zwecklos. Mitternacht ist eine undefinierbare Zeitspanne, in der jeder irgendwie seine eigenen Jahreswechsel in seiner eigenen Zeitzone feiert, die Raketen irritiert auf einen Startschuss, einen lauten Knall warten und sich schließlich entnervt irgendeiner bolivianischen Uhr anschließen. Umso intensiver sind die Gefühle, festes Umarmen, gegenseitigen Herzensglückswünsche, wir lassen Sektkorken knallen, es fließen gerührte Tränen und erstrahlen grellbunte Feuerwerkssterne am Himmel. Wundervoll, die wertvollsten und unvergesslichsten Sekunden bisher in Bolivien. Den Weg zurück zum Hostel laufen wir. Es ist erstaunlich wenig los, in den steilen Straßen und Gassen von La Paz, erst am Plaza herrscht Leben und auf der Feier mit Live-Musik, auf der wir nach dem kurzen Energietanken in unserer Absteige zu Christina, einer Freiwilligen und Freundin aus Titicachi, und ihrer Schweizer Kollegin Doris hinzustoßen, ist die Hölle los, zumindest nachdem wir drin sind. Die Sonne wirft bereits wieder helle Strahlen über die Großstadt, als wir um etwa 7 Uhr zurück im Hostel glücklich in unsere Betten fallen.
Drei Stunden später steht David auf. Rundgang, Neujahrsspaziergang durch La Paz. Eva und ich schließen uns ihm an und gemeinsam schleichen wir uns auf spitzen Fußsohlen hinaus. Durch enge Straßen und kleine Gässchen laufen wir in der eigenartigen Taubheit und Stille am Neujahrsmorgen bis herab ins Zentrum, wo sich Wolkenkratzer und moderne Glasbauten an koloniale, historische Wohnresidenzen reihen, während sich Drumherum niedrige Backsteinhäuser baukastenähnlich übereinander stapeln und sich eng an die umliegenden, steilen Hänge schmiegen. Die kühle frische Bergluft ist herrlich und knapp. Wir schlendern schnaufend über die Avenida 16 de Julio, den Prado, eine herausgeputzte Allee, benannt nach dem Beginn der Revolution gegen die spanische Besatzungsmacht, in der sich ein Kaffee ans andere reiht und die Noblesse der Andenstadt von ihrem Büroalltag eine Auszeit nimmt. Ein Denkmal gedenkt hier Christoph Kolumbus, dem ersten Europäer auf dem Kontinent, einem Mann, der die Kultur und Traditionen der Eingeborenen noch zu schätzen und zu achten wusste, im Gegensatz zu vielen seiner Nachfolgern. Während wir zum Plaza San Pedro schwer atmend wieder hinaufsteigen, kommen wir an kunstvollen Wandmalereien und Bildhauerwerken vorbei, die vom Freiheitskampf der Indianer und vom Unabhängigkeitskampf Boliviens sprechen, von Leid und Ungerechtigkeit, aber auch von Stolz und Würde. Heroisch wehen rot-gold-grüne Fahnen im Wind, zornig recken einfache Bauern ihre Fäuste in die Luft, drücken Mütter mit schmerzgezeichneten Gesichtern ihre Kinder an die Brust. „Jetzt haben sie das Land für sich, haben zum ersten Mal einen indigenen Präsidenten“, denke ich, „Und doch lebt ein Großteil der Indios auf in schmutzigen Ecken ohne Dach über dem Kopf. Es bleibt noch viel zu tun, die Gleichberechtigung wird noch ein langer Prozess sein.“ Das Gefängnis San Pedro am gleichnamigen Platz steht symbolisch für das Ungleichgewicht in Bolivien. Die Mehrheit der Gefangenen sind Indígenas. Die Strafanstalt ist in ihrer Art ein besonderes Sozialexperiment. Hinter den um die sieben Meter hohen, massiven Mauern verbirgt sich eine kleine, eigene Stadt. Restaurants, Bars, Läden und Herbergen. In San Pedro gibt es nichts, was es nicht gibt. Leider auch Waffen, Drogen und Alkohol. Wer kein Geld hat, der schläft auf der Straße oder erkämpft sich einen Wohnplatz. Kriminalität herrscht drinnen wie draußen. Welch wirksame, ordnende und entscheidende Rolle die Polizei im Leben der Gefangenen spielt, erfahren wir, als wir uns dem vergitterten Eingangstor nähern. David hat nämlich gehört, dass eine Besichtigung möglich ist. Ein Polizist scheint sich auch gleich anzubieten, uns die Türen zu öffnen, jedoch hat natürlich alles seinen Preis. „Wie viel?“ sind die ersten Wörter, die wir von ihm zu hören bekommen. Als sich ein Kollege dazugesellt, ändert sich plötzlich seine Meinung und er verbietet uns den Eintritt. Es ist das alte bittere Lied vieler Entwicklungsländer. Gesetzesuntreue Polizisten und Korruption machen so auch in San Pedro die Eskalationen im Inneren erst möglich. Wir treffen auf eine Frau, die ihren Sohn besuchen möchte. Unter Tränen erzählt sie, dass er ihr befohlen habe draußen zu bleiben. Es sei zu gefährlich.
Auf dem Weg zum Plaza Pedro D. Murillo denken wir betroffen über die Schicksale der Menschen in der Strafanstalt nach, über ihren Sinn und vor allem Unsinn. Wir erreichen den Platz im Regierungsviertel, als gerade eine militärische Neujahrszeremonie eingeleitet wird. Stolz präsentieren bolivianische Rotuniformierte ihre Gewehre, trommeln Marschkapellen ihre Rhythmen, werden die Fahnen hoch gehisst vor der Kulisse schöner kolonialer Kathedralen, Palast- und Regierungsgebäude. 1548 gründete Alonso de Mendoza die Stadt, nachdem im Río Choqueyapu Gold gefunden worden war. Das Goldfieber ebbte zwar schnell ab, doch die Lage der Stadt an der wichtigsten Silberroute von Potosí zur Pazifikküste sorgte für ihr stetiges Wachstum. Heute leben etwa 800 000 Menschen auf den 3500 Metern, noch mal so viele in der auf der Hochebene im Norden gelegenen Partnerstadt El Alto. Durch schmale, verwundene, gepflasterte Gassen gehen wir vorbei an geschichtsträchtigen Häusern, von denen sich einige noch einen Hauch ihres ehemaligen Scharmes, ihrer vorzeitigen farbenfrohen und ziervollen Pracht erhalten haben, zurück zum Hostel, von wo wir kurz darauf erneut aufbrechen sollten, um den Wahnsinn und das Chaos von El Alto kennenzulernen. Voller Gedanken und Bilder würden wir am Abend nach einem Essen im Cinecenter recht zügig todmüde auf unseren Betten zusammenbrechen. Nicht für lange. Der nächste Morgen würde früh beginnen.
Es ist 6 Uhr, als wir beginnen, unsere Besitztümer zusammenzuklauben und in die Rucksäcke zu stopfen, verzweifelt versuchen in das, was wir unser Zimmer genannt haben, etwas wie Ordnung zu bringen. Das Auschecken ist mit einiger Verwirrung über die Anzahl der Davids verbunden, allerdings bleiben auf wundersame Weise die Kosten bei dem Preis von fünf Personen. Das Taxi, in das ich möglichst schnell und unauffällig hineinwische, setzt Eva, Corinna, Lewin, David und mich wenig später an der Agencia „El Solario“ ab. Dort gibt man uns während eines Frühstücks Instruktionen zur Montage von Helmen, Knie- und Ellbogenschonern, zum sicheren und kontrollierten Umgang mit Mountainbikes und lässt uns, nun Teil einer bunt gemischten, internationalen Gruppe von circa 40 abenteuerlustigen Lebensmüden einen Vertrag unterschreiben, der jeglichen Anspruch auf Versicherungsschutz außer Kraft setzt. Wir bereiten uns vor, um die berühmtberüchtigte „Death Road“, „The World’s Most Dangeraous Road“ hinab zu rasen, die ursprünglich einzige Verbindung zwischen La Paz und dem Tiefland. Unser Plan ist, „es zu tun und zu überleben“, wie die Sprüche auf ein paar im Raum hängenden T-Shirts Unheil verheißend verkünden. Ungefähr eine Stunde dauert die Fahrt in den Kleinbussen der Agentur, raus aus La Paz, auf Straßen, die sich die Berge herauf, immer weiter gen Himmel schrauben. Merklich kühler wird es, unser Atem steht in der Luft In den graubraunen Wiesen an den Hängen grasen Lamas, hin und wieder sind kleine, baufällige Steinhäuser in den Gebirgstälern auszumachen, dann taucht der erste Schnee auf. An einer Kuppe halten wir an. Dichter Nebel umgibt uns, die Sicht endet nach unter 50 Metern. Dennoch sind die Hänge auszumachen, die sich im Nichts verlieren. Dabei sind wir noch gar nicht auf der eigentlichen Death Road, sondern stehen auf der geteerten, zweispurigen und gesicherten im März 2007 neu eröffneten Straße. Ein weiteres Mal bekommen wir Sicherheitsanweisungen, werden dazu angehalten Abstand einzuhalten, rechts zu fahren und unsere Fähigkeiten nicht zu überschätzen, dann lässt der erste Guide einen jubelnden Aufschrei hören, sein Fahrrad springen und tritt in die Pedale. Der Wind pfeift mir nass und eisig in mein Gesicht, verfroren klammern sich meine Hände an den Lenker, gebückt rase ich meinem Vordermann hinterher. Immer wieder verschwindet er in der Nebelwand, hinter mir ist keiner zu erkennen. Ich kneife die Augen zusammen. Zu meinen Seiten fällt die Straße steil ins Nichts ab, zwischen den Leitplanken tauchen Kreuze auf. Irgendwann durchbrechen wir die Wolkendecke und der atemberaubende Anblick lässt mich beinahe die Kontrolle über mein Fahrrad vergessen. Grün und steil erheben sich die grasbewachsenen Berge majestätisch in die Höhe, kratzen in den Himmel, die felsigen Spitzen sind von weißem Nichts verschluckt. Bäume krallen sich mit ihren Wurzeln an die Klippen, Pflanzen und Büsche finden Erde, wo nur Fels zu sehen ist. Wir erreichen ein Dorf, einen Kontrollposten, eher eine spärliche Häuseransammlung. Läden reihen sich am Straßenrand, Metallbaracken und rissige, windschiefe Bauten. In einem winzigen Polizeiposten bezahlen wir die Maut, essen kurz zu Mittag, dann setzen wir uns wieder in die Autos und legen das letzte Stück bis zur Death Road auf motorisierten vier Rädern zurück. Wir biegen vom Teer ab, lassen die Infrastruktur hinter uns. Kies knirscht unter den Rädern, der Weg misst nicht mehr als drei Meter Breite. Als ich mein Stahlpferd wieder sattele, muss ich an die 15 Radfahrer denken, die auf den 64km schon ihr Leben verloren haben, oder an die durchschnittlich 26 Fahrzeuge im Jahr, die vor dem Erbau der neuen Verbindung, in den Klippen und Hängen neben der Straße zerschellten. Kurz darauf beschränkt sich ein Großteil meiner Konzentration auf die Steine und Löcher im Weg, die Bewegungen des Lenkers, die richtige Dosierung und Einsetzung der Bremsen. Senkrecht stürzt keinen Meter neben mir der Boden hinab, bis zu 600 Meter in die Tiefe. Serpentinenartig schraubt sie sich herab, fällt steil ab, durch alle Klimazonen. Wir durchfahren Wasserfälle und schlittern um 90°-Kurven, rostige Schilder warnen vor Schlangenformungen der Straße und Steinschlag. Die Federungen meines Mountainbikes sind voll ausgelastet, Schlag um Schlag fange ich mit meinen Armen ab, alle Muskeln stehen unter Höchstspannung. Der Schweiß rinnt mir die Stirn herunter. Es ist merklich wärmer geworden. Ich hebe den Kopf, tropische Farne und Bäume, unter mir grüne Täler, tief unten sind Flussläufe und erste Felder zu erkennen. Stein. Mein Vorderrad wird abrupt gebremst, mein Fahrrad hebelt es in die Luft. Im letzten Augenblick kann ich den Flug mit meinem Gewicht abfangen, reiße den Lenker herum, drücke die Bremsen, kämpfe mit dem Gleichgewicht und lande in der Bergwand. Glück gehabt. Die linke Seite hätte kein Ende gehabt. Mir geht es gut, meinem Drahtesel weniger, die Kette hängt lose neben den Zahnrädern. Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein auf der restlichen Talfahrt nach Coroico. Als wir an unserem Ziel in der Nähe der Kleinstadt ankommen, sind wir nicht nur wegen dem Flussbett nass, das wir spritzend durchbrettern. Um die 25°C und Sonnenschein und das auf über 2000 Metern. Für derartige Probleme hat die Agentur jedoch vorgesorgt und so erreichen wir ein kleines Restaurant zur Stärkung mit Swimming Pool zum Abkühlen und Hängematten zum Entspannen. Als wir am Abend in der Herberge in Coroico selbst auf Christina, Doris und Julia treffen, sind wir überglücklich. Wir haben es getan und haben überlebt.
Coroico ist idyllisch. Palmen und Sonne, jedoch keine Moskitos, keine tödliche Hitze, ein mildes angenehmes Klima, das ganze Jahr über. Gepflasterte Gassen, auf denen Indígenas Obst, Gemüse und verschiedensten bunten Kleinkrams anbieten. Farbenprächtige Häuser mit großen einladenden Fenstern, die sich treppenförmig die Hügel hinaufziehen. Am sauberen Plaza eine kleine, romantische Kirche. In der Ferne die schroffe Kulisse der Anden. Wir sind in den Yungas, dort, wo zwei Sinnbilder Südamerikas aufeinandertreffen: Der Regenwald des Amazonasgebiets und die Gipfel der Anden. Wunderschöne subtropische Täler mit steilen, von Wäldern bewachsenen Berghängen, die in feuchte, wolkenverhangene Schluchten abfallen; eine natürliche Grenze zwischen dem Altiplano und dem Amazonas. Hier ist die Kokakammer Boliviens, nur hier darf die traditionelle einfache Pflanze legal angebaut werden. Kokafelder, sowie der Anbau tropischer Früchte bestimmen das Bild vieler umliegender Hügel. Bei einer geführten, nachmittäglichen Wanderung in die Täler haben wir Gelegenheit diese Schönheit hautnah zu entdecken.
Während ich unseren Zug vor mir durch kniehohes Gras laufen sehe, muss ich unweigerlich an prämierte Landschaftsbilder und Filmszenen aus „Herr der Ringe“ denken. In einem Flussbett umgeben von dschungelartigen Bäumen und Gewächsen machen wir halt. Die Kleidung fällt und wir planschen im Wasser. Leider war kurz zuvor auch Julias Kamera gefallen, aus meiner Hose, irgendwo auf dem Weg, sodass ich die Strecke quasi auswendig kennen lernte, letztendlich aber erfolgreich am höchsten Punkt, am Beginn unserer Tour fündig wurde. So stand dann doch kein Schatten über dem Abend, an dem wir in ihren 19. Geburtstag reinfeierten, eine gelungene letzte Nacht unseres ersten mehrtägigen Urlaubs in Bolivien verbrachten, wenn auch nicht der krönende Abschluss, das HIGH-light im wahrsten Sinne des Wortes. Den wirklichen Gipfelpunkt, den absoluten Überflieger, die Steigerung alles bisher Erlebten, kurz das Höchste sollten wir erst am nächsten Tag finden, dort, wo es am ehesten zu finden ist, weit oben in windigen Lüften.
Am frühen Vormittag warten wir gemeinsam mit gepackten Rucksäcken am Touristenbüro von Coroico. Wir sind pünktlich. Um 9 Uhr, hatte man uns gesagt, finge das Programm an, wir würden also um 12 Uhr ohne Probleme wieder im Taxi Richtung La Paz sitzen, um völlig stressfrei in den nächstbesten Bus nach Santa Cruz via Cochabamba zu steigen. Welch dreiste Lüge! Wind, Wetter und bolivianische Organisationsfähigkeiten standen gegen uns und unseren Plan vor Sonnenuntergang auf dem Heimweg zu sein. Im Touristenbüro freilich wiegt sich noch jeder von uns in Sicherheit vor der berüchtigten bolivianischen Zeiteinheit, glaubt jeder, das Land zu kennen und deutsch korrekt einen unfehlbaren Ablauf vorbereitet zu haben. Welch Optimismus, welch Blindheit verblendet von dem Abenteuer, was uns bevorstand! 9 Uhr ist bereits vorbei, als der Kleinbus ankommt, der Kleinbus, der uns auf die Kuppe eines Berges über Coroico bringen sollte, so nah dem Himmel, wie nur eben möglich. Eva und ich dürfen als Erste einsteigen, neben den anderen Amateurpiloten ist nur noch Platz für zwei und so zockeln wir mühsam gemeinsam mit zwei Koreanerinnen, ein paar Amerikanern und den verantwortlichen Bolivianern die steile erdige Straße hinauf. Ich denke an meinen ersten hautnahen Wolkenkontakt, einen Tag vor meinem Abflug nach Bolivien, erinnere mich an das Gefühl entgegen aller ureigenen und bewährten Instinkte aus dem Flugzeug zu steigen, mich im reißendem Wind am Flügel zu halten unter mir nichts als Leere und schließlich sich gegen jede evolutorisch lebensrettende Hemmung sträubend abzuspringen, loszulassen, zu fallen, zu jauchzen. Mein erster Fallschirmsprung war es gewesen und seither hatte ich Lust auf mehr. Heute sollte der Tag sein, an dem ich nach fünf Monaten ein weiteres Mal den Boden unter den Füßen verlieren würde, nicht von einer brummenden Cessna aus, sondern von dem Sprungbrett der Mutter Erde, einem Berg. Paragliding. Meine Vorfreude ist gewaltig, las Yungas aus der Luft, dieser Anblick muss einmalig sein und er ist es. Als ich endlich an Seilen im Himmel hänge, schlucke ich, nicht nur, weil Paragleiten mehr auf den Magen schlägt, als ich erwartet hätte, sondern vielmehr auch aufgrund des atemberaubenden Landschaftsbildes unter mir. Unbedrohlich scheinen die unbedrohlichen, schroffen Berge der Anden, weitläufig und wunderschön erstrecken sich grüne Flusstäler und bewaldete Hügel, klein und immer kleiner werden die bunten Häuser von Coroico unter meinen Füßen. Klein und immer kleiner? Es hat zwar einiges an Wartezeit, jeweils einen zweiten Versuch und einen Wettercheck und Windrichtungscheck des etwa zehnjährigen Managers mit Klopapierrolle und angefeuchtetem Finger gebraucht, und die Stundenzeiger sind längst über die 12 gewandert, aber als Eva und ich je mit unserem eigenen Piloten abheben sind die Bedingungen gut, sehr gut. „Ist es möglich, bis nach La Paz zu fliegen?“, frage ich den Mann um die 50 hinter mir, dessen Lederkappe ihm das Aussehen eines Leonardo da Vincis des Fliegens, einer Art Mac Giver des Paragleitens verleiht, und in mir den starken Verdacht erregt, dass dieser Luftfahrtpionier die Kontrolle des lebenswichtigen Schirms über mir nicht auf legale Weise erlernt hat. „Die Piloten haben Erfahrung.“, hat man uns gesagt, ein Zertifikat haben wir nie gesehen. Einem Charles Lindbergh würde ich allerdings eher vertrauen, als einem dahergelaufenen Lufthansaschulabgänger und genieße so die Freiheit in den luftigen Höhen angeschnallt an den Reinhold Messner des Himmels, der irgendwann seine begeisterten, völlig haltlosen, an einen Erstflieger erinnernden Ausrufe unterbricht und mir in rauer Stimme auf meine Frage brüllend gegen das Pfeifen um uns herum antwortet und meint, um dahin zu fliegen müsse man schon einen besonderen, einen ganz besonderen Tag erwischen. In der Ferne schrumpfen die Berge von La Paz. Neben uns kreisen Adler. Unten sehe ich die Köpfe von Lewin, Julia, Corinna und David am Startpunkt, irgendwo zwischen den Wolken den violetten Paragleiter Evas. Und wir zischen durch den Wind, schrauben uns höher und höher, schwerelos und grenzenlos frei. „39 zu 1“, höre ich von hinter mir. Was das bedeute, frage ich. „Mit diesem Wind kannst du nach La Paz fliegen.“ – Und nicht landen. Er verschweigt es mir, aber bald merke ich es von selbst. Eine geschlagene Stunde sind wir in der Luft, ohne Chance den Kräften der Natur zu entkommen, verzweifelt versucht, der gewohnten Erde näher zu kommen. Wir drehen Pirouetten, klappen die Flügelspitzen ein, ich halte mit an den Strängen, hänge mich mit all meinem Gewicht in die Seiten des Gehänges, bemüht den Schirm gen Boden zu drehen und spüre wie der Sturm an meinen Muskeln zerrt. Sein komplettes Repertoire packt der Meister hinter mir aus, aber das, was normalerweise nach unten bringt, erweist sich als kunstvoller Fahrstuhl nach oben. So schön der Anblick der Spielzeugwelt, das Gefühl der absoluten Freiheit und Unberührbarkeit in der Luft auch ist, kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehe ich, als ich in dem Wissen ausweglos im Himmel gefangen zu sein erkennen kann, wie tief unter mir Lewin und Corinna erneut den Kleinbus besteigen, um Pizza holen zu gehen. In der Ferne tauchen bereits Gewitterwolken auf, da erreicht uns ein Funkspruch des Piloten von Eva, die es irgendwie geschafft haben, den Boden zu erreichen: „Der Wind hat ausgesetzt, wir warten mit dem Sprung der anderen.“ Noch im selben Moment spüren wir es. Nichts hält uns mehr in der Höhe, wie ein Stein fallen wir mit gekappten Flügeln nach unten. Der Boden rast uns entgegen, ich verstehe gerade noch „Beine hoch“, dann schlagen wir ein. Mein linker Knöchel schmerzt, ich rappele mich auf, teste kurz, atme auf: nur gestaucht, rechts ist okey. Die Pizza, unsere letzten Vorräte, darunter ein halbes nutella-Glas sind längst verzehrt, als Julia, Corinna und Lewin in dieser Reihenfolge aufsteigen können. Im Sonnenuntergang kostet es Lewin vier Versuche in den nicht vorhandenen Wind zu rennen, durch pure Beinkraft eine Geschwindigkeit zu erzeugen, die den Fallschirm öffnet, doch letztendlich hebt auch er jubelnd ab.
Wir haben das Fliegen gelernt, haben wortwörtlich einen Höhepunkt ans Ende unserer Reise gesetzt und wieder einmal gelernt, dass Planen in Bolivien unmöglich ist. In der Dunkelheit der Nacht fahren wir mit einem der letzten Trufis, Linientaxis, zurück nach La Paz, winden uns die Serpentinen der neuen „Death Road“ hinauf und steigen irgendwann, so etwa um Mitternacht in El Alto in einen Bus ein. 25 Bs, 2,50€ pro Person, ein Spottpreis für über acht Stunden Fahrt nach Cochabamba, von wo es endlich nach Hause, nach Santa Cruz gehen sollte. Irgendwie hatte man im Reisebüro recht behalten. Um 12 Uhr nachts saßen wir im Bus und wer sich darauf einlässt, kommt stressfrei ans Ziel. Wer sich darauf einlässt…
Ich muss schmunzeln. Zeit in Bolivien, ein eigenes Thema. Ein äußerst Bedeutsames für Psychiater. Es braucht einige Zeit um sich als Ausländer die fast ignorante Gelassenheit und Ruhe eines Bolivianers anzugewöhnen. Wer in Bolivien plant, muss improvisieren. Wer pünktlich ist, warten. Wer einen Autodiebstahl zu melden hat… Die eigene Geduld und kulturelle Akzeptanz wird mitunter hart auf die Probe gestellt. Ich darf allerdings mit Stolz behaupten, noch nicht den Verstand verloren zu haben, zumindest noch nicht ganz. Die Polizei war da allerdings anderer Meinung, als ich ihnen die Geschichte von Smokey erzählte, die Geschichte von meinem ersten eigenen Wagen, von dem roten klapprigen, motorisiertem ADAC-Techniklehrvierrad, das sich mittlerweile vermutlich in Chile oder Paraguay in den Händen eines glücklichen Schwarzmarkthändlers befindet. Es fiel mir teilweise selbst schwer, mir meine Worte abzukaufen, aber man soll sich bei den Behörden an die Wahrheit halten und, wie auch die schlauen bolivianischen Gesetzeshüter nach einiger Zeit bemerkten, zu lügen, oder gar Versicherungsbetrug zu begehen, ohne je eine Diebstahlversicherung abgeschlossen zu haben, wäre doch selbst für einen Laienverbrecher wie mich ein höchst undurchdachtes Unterfangen. So blieb den Detektiven letztendlich nichts anderes übrig als meine wirren Beschreibungen des Tatherganges zu notieren und ihnen Glauben zu schenken. Was der junge, verschwitzte Schwarz-Uniformierte in dem von Neonlicht grell erleuchteten, etwas siffigen Gemeinschaftsbüro der Staffel Alpha aus der Spezialeinheit der bolivianischen Polizei für KFZ-Diebstähle und Vergehen jeder Art, der „Diprove“ schließlich nach einer geschlagenen Stunde Verhör und rekordignorantem Geschwindigkeitstippen im Zweifingersystem auf dem Computerbildschirm flimmernd vor sich hatte, klang in den sachlichen Fachbegriffen der Justiz fast schon wieder glaubwürdig: (übersetzt) „Hiermit melde ich den Diebstahl meines Autos geschehen wahrscheinlich am 17. Dezember 2011 zwischen 23 Uhr nachts und 4 Uhr morgens. In der Umgebung der Einreisebehörde am zweiten Ring erlitt mein Wagen also, während ich am 14. Dezember auf dem Weg zu Flughafen Viru Viru war, um einen Familienangehörigen abzuholen, einen technischen Schaden, weshalb ich es am besagten Ort abstellte und es per Schlüssel sicherte. Ich nahm von dort ein normales Taxi, holte meinen Vater ab und unternahm mit ihm einen Ausflug nach Samaipata. Erst am 19. Dezember 2011 kehrte ich zu dem Parkplatz in Santa Cruz zurück. Groß war meine Überraschung, als ich mein Auto dort nicht mehr vorfand. Eigene Erfragungen bei Anwohnern der Umgebung ergaben, dass das Auto bis zum Samstagabend mit geöffneten Türen gesehen worden war…“ Soweit der Bericht. Der Beamte namens Wilfredo hatte freundlicher Weise ausgelassen, dass ich nicht nur wegen einem qualmenden Motor, sondern auch wegen meines derzeitigen Gesundheitszustands, der intensiv und mit Druck ein öffentliches WC forderte, angehalten hatte. Auch hatte er sich nicht dazu hinreißen lassen, den Umstand, dass ich keine Ahnung hatte, wie die Straße hieß und einige Schwierigkeiten hatte, die Unglücksstelle wiederzufinden, mit einer ironischen Bemerkung zu ehren. Genauso wenig wie er es für nötig hielt, bei einer derartig alten Schrottkiste festzuhalten, dass ich zuvorkommend das hintere Heckfenster unrepariert und somit einladend offen, die neue Scheibe aber als kleines Willkommensgeschenk noch auf der Rückbank liegen gelassen hatte. Zwei Dinge allerdings bereiteten ihm ebenso wie mir anfangs Kopfzerbrechen. Erstens: Wie kann man ein Auto stehlen, das aufgrund eines Motorschadens abgestellt worden war? Die Erklärung dazu erfuhr ich von einigen Bolivianern in der Umgebung: Man hätte ja Zeit gehabt, den Schaden zu reparieren. Schade also bloß, dass ich nicht etwas früher an den Tatort zurückgekehrt war und einem unübertrefflichen Service dankend einen vorbildlich wiederhergestellten Wagen abgeholt hatte. Und zweitens: Wieso meldet man einen solchen Diebstahl erst über drei Wochen später? Zur Beantwortung dieser Frage musste ich den Polizisten leider über sein Rechtssystem und die bolivianische Bürokratie aufklären. Ich erläuterte ihm also gelangweilt, dass Diebstähle, die mehr als 24 Stunden zurückliegen, zuerst von einem Anwalt bestätigt werden müssen, der darauffolgende Anzeigeprozess ein weiteres Mal bolivianische Wartequalitäten fordert und ich ihm gerne schon bei meinem ersten Besuch auf diesem abgesperrten Parkplatz für illegale Autos mit seinen flachen Bürohäusschen meinen Fall auseinandergelegt hätte, jedoch die ersten Tage zunächst eine Reihe an Formularen, Vorformularen und Vorvorformularen auszufüllen hatte.
Der bolivianische Dokumentenwahn ist übrigens auch der Grund dafür, dass wir nach fünf Monaten im Land immer noch keine Visastempel in unseren Reisepässen haben. Weltwärts bietet auch halbjährige Programme an. Man stelle sich unsere Situation und die der bolivianischen Behörden unter einem derartig stressigem Zeitdruck vor. Glücklicherweise sind wir allerdings in dem Vorteil, etwas länger auf unser Visum warten zu können und nehmen mittlerweile die vielen erfolglosen Besuche gekonnt gelassen und mit Humor, können sogar mit den Bolivianern mitlachen, wenn sie ein Schild aufstellen mit der Aufschrift „Bin in 5 Minütchen wieder da“ und nach einer halben Stunde grinsend und in aller Seelenruhe wieder zurück an ihren Arbeitsplatz schweben. Dieses Land verdreht einem den Kopf, fasziniert und schlägt einen in seinen Bann. Wir mussten davon etwas zurückgeben, uns anlässlich Weihnachtens und des neuen Jahres bedanken, wenn schon nicht bei ganz Bolivien, dann wenigstens bei den Niños und den Mitarbeitern des Hogars, sowie einigen Passanten und Spaziergängern im Parque Urbano, im Stadtpark von Santa Cruz. Ehrlicher Weise muss ich an dieser Stelle hinzufügen, dass uns solche Gedanken keineswegs beschäftigten als wir am Samstagnachmittag des vierten Adventswochenendes eines der klapprigen Trufis in Cotoca bestiegen, um bei den Vorbereitungen eines Tanzfest des Hogars mitzuhelfen. Das Heim steckte zu dem Zeitpunkt in ernst zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten. In der Presse fielen sogar Worte über eine mögliche Schließung. Auf über 50 000 Dollar wurde der Schuldenberg beziffert, ein schneller Ausweg schien unmöglich. Recht bald wurden wir uns allerdings bewusst, dass derartige Horrornachrichten einzig und allein der Spendenmotivation dienten und konnten nicht umhin über die Effizienz Hermano Antonios Tränendrüsenstrategie zu staunen, als am Morgen besagten Festtages eine bunt aufgemachte Karawane aus Santa Cruz die Eingangstore und das Gelände geradezu überrannte. Den Verkleidungen nach zu urteilen war der Umzug auf direktem Weg nach Bethlehem, die Geschenke also nicht für die Behinderten gedacht. Wahrscheinlich hätte die heilige Familie jedoch nicht viel Gebrauch finden können an Kuscheltieren und Spielsachen, Spaghetti- und Reisbergen, Kuchen und Torte, Wein, Saft, Limonade und Chicha, etc., vor allem aber an 88 000 US$. Es war eine große und freudige Party. Die kostümierte High-Society von Santa Cruz, die Jachtensammler, Golfer und Luxusjeepexperten des Orientsterns tanzten, lachten und feierten gemeinsam mit Behinderten und Mitarbeitern. Hermano Antonio bedankte sich in einer pressereifen Checkübergabe mit Händedruck. Einzigartige, berühmte Musiker spielten traditionelle Musik. Ein alter Herr beeindruckte durch sein Gedudel auf Baumblättern. Als das Fest schließlich am Gipfel der Stimmung angelangt war, entschied man sich, sich die weite Reise nach Bethlehem zu sparen und hob kurzerhand feierlich das nächstbeste Baby über die Köpfe der Menge. Es war ein leicht bizarrer Anblick, doch die Niños waren begeistert und das war und ist das Wichtigste. Ich schoss die Fotos, um die ich gebeten worden war, Eva verteilte Chicha und Kuchen an die willkommenen Gäste und Lewin kümmerte sich um die Niños. Wir waren stolz darauf dabei sein zu können, Teil der Sache zu sein. Keiner von uns hätte hier erwartet, was der Abend uns noch an Steigerung zu bieten haben würde.
Kurz nach dem Fest sahen wir uns also bereits in Santa Cruz, auf dem Parque Urbano mit den Vorbereitungen einer weiteren Wohltätigkeitsveranstaltung beschäftigt. Viel gab es nicht zu tun. Eva tackerte mit Dr. Virgenia Werbeplakate an Bäume und Wände in den Grünanlagen, selbst etwas überrascht über solch frühzeitige Bekanntmachungen, Lewin und ich saßen auf dem flachen, steinernen Plaza in der Nähe der berühmten, pompösen Springbrunnen, beobachteten belustigt Hobbyskater, assistierten spontan zwei Straßenkomödianten bei ihrer Show, machten Fotos in der Weihnachtskrippe unter dem Coca-Cola-Weihnachtsbaum und grölten Lieder auf Lewins kleiner, scheppernden Reisegitarre. Man könnte sagen wir schlugen die Zeit tot und gingen einigen Leuten auf die Nerven. Vielleicht gesellte sich Enrique nur zu uns um sich etwas von dem Stress, den ihm die Organisation des Tanzfestes bescherte, zu erholen, vielleicht, um uns um eine Geräuschpause zu bitten oder vielleicht nur, um uns über seine Bekanntschaften zu ein paar professionellen Skatern aufzuklären, seine und unsere eigene Überraschung war jedenfalls groß, als wir nach dem kurzen Gespräch auf einmal auf der Teilnehmerliste standen. Was Lewin und ich kurz ersponnen hatten, wurde mit Enrique zur Realität. Wir drei, die Animalazos, würden auftreten, würden singen. Langsam wurde es dunkel. Bis zum Konzert hatten wir noch etwa eine Stunde Vorbereitungszeit. Die Ränge des amphitheaterähnliche Bühne im Zentrum des Parks waren noch recht leer. Nur vereinzelt ruhten sich frisch verliebte Pärchen auf den steinernen Bänken aus, tobten Kinder zwischen den Plastikstühlen in den unteren Reihen oder kümmerten sich Techniker und Coca-Cola-Manager geschäftig und hektisch um die letzten Feineinstellungen des Bühnenbilds. Coca-Cola. Ohne Coca-Cola hätte das Budget des Hogars niemals eine auch nur annähernd eindrucksvolle Vorstellung auf die Beine stellen können. Coca-Cola macht es möglich, Coca-Cola öffnet dir die Magie in dir. Zumindest wenn man der Werbung Glauben schenken möchte. An diesem Abend jedenfalls hatte Coca-Cola die Massen ohne Probleme zügig in seinen Bann gezogen. Riesige Coca-Cola-Flaschen säumten den Veranstaltungsort, Banner und Fahnen umrahmten den höchst zerebralen Moment, im Hintergrund überstrahlte der bereits erwähnte Coca-Cola-Baum in warmen Licht die Menge. Während den Vorstellungen verteilten kleine Wichtel Gratiscola an die Zuschauer und als Gipfel der Generosität des Weltkonzerns spendete gegen Ende Santa Claus mit einem lachenden Ho-ho-ho und einem kräftigen Händedruck mit Hermano Antonio einen Sack voller Geschenke an die Behinderten. Coca-Cola war der wahre Gewinner des Abends. Seite an Seite mit den Niños stand am Ende der leitende Publicity-Manager auf der Bühne, kassierte zuvorkommend lächelnd seinen Dank und wusste, dass er seinen Job gut gemacht hatte. So gut, wie er ihn schon immer gemacht hatte. Ist es nicht pervers, dass ausgerechnet auf dem Kontinent, in dem Coca-Cola vermutlich für die Ermordung und Folterung von knapp 5000 Gewerkschaftsangehörigen oder für die flächendeckende Abholzung der kostbaren Regenwälder verantwortlich ist, an jedem Kiosk eine Coca-Cola-Plakete hängt, selbst die Straßenschilder von dem Konzern gesponsert sind und kaum ein Getränk, nicht einmal Wasser, nicht wenigstens einen kleinen Coca-Cola-Schriftzug trägt? Solch kritische Gedanken waren freilich aus den Köpfen gezaubert, als die bunten Scheinwerfer sich auf die Bühne drehten und vor der Kulisse des leuchtenden Coca-Cola-Weihnachtsparadieses und unter dem sternklaren Nachthimmel die sanfte Stimme einer bolivianischen Popsängerin und ihrer Band zum ersten Lied anhob. Sie sang gut, professionell, viel zu professionell. Lewin, Eva und ich umklammerten mit verschwitzten Händen unsere eilig gekritzelten Spickzettel mit unserem Liedtext. „Hallelujah“ würden wir singen, von Leonard Cohen. Ein Blick auf die Bühne und in die Gesichter der anderen. Zurück, noch mal üben. Also stellten wir uns wieder unter die Bäume des Parks und gingen unsere Strophen durch, wieder und wieder. Plötzlich kam ein Ehepaar vorbei, wahrscheinlich auf dem Weg zum Fotoshooting. Diese Chance ließen wir uns nicht entgehen. Üben vor Publikum, üben mit großem Effekt. Die Worte der Braut vergesse ich wohl nie. „Ich denke, ihr seid ein Geschenk des Himmels“, sagte sie mit Tränen in den Augen, nachdem unser letzter Ton verklungen war. Nun kannte unsere Motivation, unser Selbstbewusstsein keine Grenzen mehr. Überzeugt von unserem unentdeckten und neu geweckten Talent stolzierten wir übermütig und zielstrebig zum Amphitheater zurück und – schluckten. Was am Anfang nach einer bescheidenen Publikum aussah, war jetzt zu einem reißenden und tobenden Menschenmeer herangewachsen. Mehrere tausend Leute quetschten sich auf den Rängen, lauschten den Darbietungen einer unglaublich begabten fünfjährigen Dichterleserin und lachten herzhaft mit den sarkastischen und scherzhaften Kommentaren des Moderators. Es kehrte wieder zurück. Das von unzähligen Klavierabenden, Kammerkonzerten und Orchesterauftritten altbekannte Gefühl. Das Herzklopfen bis zum Hals, der kalte Schauer im Rücken, der perlende Schweiß auf Nacken und Händen. Ich schaute die Niños an, die begeistert auf den Plastikstühlen mit der Menge Beifall klatschten, als einige von ihnen auf der Bühne einen Tanz zu traditioneller Musik aufführten, ließ meinen Blick wandern zu den behinderten Künstlern im Rampenlicht und wusste in dem Moment, dass ich es nicht für mich, sondern für sie tun wollte. Für die Lebenserfahrungen, die ich mit ihnen teilen durfte und darf. Ein älterer Herr betrat die Bühne. Ein Camba, ein Cruceño in traditioneller Kleidung. Er erzählte Geschichten, selbst ausgedachte Geschichten und die Niños, sowie alle Zuschauer lauschten gefesselt und gespannt. Er war der letzte auf der Liste vor uns. Und auf einmal war es soweit.
Der Moderator setzte sein Mikrofon an, holte tief Luft und brüllte: „Los Animales“ Animales? Animalazos! Eine kleine Verbesserung musste er sich gleich von uns anhören, bald darauf aber witzelten wir – bzw. hauptsächlich er witzelte – über deutsche Aussprache und Sprache, machten Scherze über die gegenseitige Kultur und bedachten unseren unbezahlten Freiwilligendienst mit anerkennendem, wenn auch leicht belustigtem Kopfnicken. Kurz, wir waren Teil der Show und noch bevor wir überhaupt einen Laut gesungen hatten, liebte uns dank den Unterhaltungskünsten des Moderators die Menge. Irgendwann jedoch wurde es still um uns herum. Ich trat vor, räusperte mich, richtete ein paar einleitende Worte an die Zuschauer und die Niños. Erklärte mit trockener Kehle, weshalb wir hier auf der Bühne ständen, was wir den Niños zu verdanken hätten. Letztendlich allerdings sprach die Musik jeden weiteren Gedanken aus. Wir legten so viel Gefühl wie möglich in jede Liedzeile, jeder von uns tat sein bestes. Lewin in der ersten Strophe, ich in der zweiten und Eva in der dritten. Die letzten Klänge des gemeinsamen Refrains gingen in Jubel unter. Wir waren durch. Strahlend standen wir im Rampenlicht. Die Menge klatschend und pfeifend vor uns. Es war gut gewesen. Wir waren stolz auf uns. Zu recht. Dass Enrique später zu uns kam und meinte, dass wir Antonio dankbar hätten erwähnen sollen, konnte unsere Laune kaum trüben.
Zu dem Zeitpunkt war unser Verhältnis noch gespannt. Ein Auto, eine Interpolgeschichte, Kommunikationsprobleme. Wir wussten damals nicht, wo wir in einem Monat stehen würden. Deutscher Boden, bolivianischer Boden? Wir waren uns nur dreier Sachen sicher: Dass wir einen Freiwilligendienst ableisteten, um zu helfen, dass wir arbeiten, aber vor allem darüber hinaus das Leben der Niños und die Welt des Hogars verbessern wollten und dass wir es bedauerten, dass eine derartig schweigsamer Schwebezustand zwischen Streit und Versöhnung mit Hermano Antonio unseren Aufgaben und Zielen im Weg stand. In der Woche nach dem Konzert kamen wir nach gut einem Monat Warten endlich dazu, unser Gespräch zu führen.
Einige Tage zuvor war die Maschine meines Vaters am Flughafen Viru Viru mit Weihnachtsgeschenken und anderen Care-Paketen an Bord gelandet. Ich hatte ihm Santa Cruz gezeigt und ihn mit auf einen Ausflug nach Samaipata entführt, wo er etwas ländlichere bolivianische Luft schnuppern und Inca-Überreste in El Fuerte entdecken konnte, besonders allerdings wir in den Cafés in der Idylle des Bergdorfes nach vier Monaten zum ersten Mal reden konnten. Er erzählte mir von Zuhause, von dem Ergehen meiner Geschwister und meiner Mutter und ich musste bestürzt feststellen, wie viel sich trotz moderner Kommunikationsmittel wie Internet in vier Monaten verpassen lässt, wie hart die Kehrseite einer Arbeit im Ausland sein kann. Danach hatte er einen Teil des Gepäcks im Hogar abgeladen und war weitergefahren, um sich mit Kollegen einige Projekte anzusehen und innerhalb einer Woche von Bolivien mehr zu sehen, als wir das in vier Monaten geschafft hatten, allerdings nicht ohne mir noch seine Einschätzung von Hermano Antonio und unserer Situation auseinanderzulegen.
Derartig gewappnet und im Wissen um das Verständnis und den Rückhalt in unserer deutschen Entsendeorganisation betraten wir also an jenem Montagmorgen das Büro unseres Vorgesetzten und machten uns auf seine Standpauke bereit. Die Diskussion ist kurz, kürzer als erwartet. Nach nicht einmal 20 Minuten schnuppern wir wieder freie Luft und können selbst kaum glauben, was sich da von jetzt auf gleich schlagartig geändert hatte. Wir hatten ihm unsere Sichtweisen dargelegt, ihm bewusst gemacht, dass wir unsere Freiheiten haben wollen, aber einsehen, welche Grenzen es gibt. Diese Grenzen aber nicht unserer Arbeit, unserem Dienst und unserem Engagement im Weg stehen sollten. Wir konnten ihn überzeugen. Unsere Beziehung war besser denn je.
Zu Weihnachten kam mein Vater von seiner Rundreise und Erkundungstour durch Bolivien nach Santa Cruz zurück und besichtigte den Hogar. 24 Tage hatten wir uns auf Weihnachten vorbereitet. Hatten Tag für Tag ein neues Plakat des Kalenders für die Niños aufgehängt, bei den täglichen Novenas, kleinen Wortgottesdiensten und andachtähnlichen Feierlichkeiten mit Frühstücksschmaus hinterher, mitgewirkt, unseren Adventskranz gepflegt, Geschenke besorgt, mit einer Lichterkette aus Deutschland den Busch vor unserer Tür kurzerhand zum Weihnachtsbaum befördert und die ersten Plätzchenladungen aus Deutschland verdrückt. Doch nichts davon konnte bis dahin etwas von der weihnachtlichen Vorstimmung in unserer Heimat imitieren. Kein Gefühl von prasselnden Kaminfeuern, von friedlicher Eiseskälte und einer stillen, weißen Sternennacht, von dampfendem Kakao oder heißem Glühwein. Unser Weihnachten würde anders werden, auch wenn wir uns allergrößte Mühe gaben unter widrigen Umständen etwas Heimatkultur nach Bolivien zu bringen. An Heilig Abend war es heiß wie eh und je. Ein leichter Staub lag in der Luft und eine ruhige Vorfreude auf den Abend, die jedoch in nichts der Spannung auf das Glöckchen ähnelt, die man als Kind in Deutschland verspürt hatte. Mein Vater kam etwa gegen Nachmittag von Santa Cruz aus an. Morgens hatte es einen kleinen Brunch für die Mitarbeiter mitsamt Geschenkeverteilung gegeben und danach hatten wir uns in aller Ruhe ausgespannt und ein paar letzte Festvorbereitungen getroffen. Nun war ich damit beschäftigt aus dem staubigen Gästezimmer den Dreck und Müll zu kehren und mit meinem Vater sein Quartier für die kommenden zwei Nächte etwas wohnlicher zu machen. Als wir fertig waren, blieb nur noch wenig Zeit für einen Rundgang durch den Hogar. Wir entschieden uns dementsprechend, diesen Teil auf den nächsten Morgen zu verschieben und nutzten die zwei Stunden mit einem kleinen Rundgang durch unser beschauliches Örtchen Cotoca. Marktleben, Landhäuser und Lehmstraßen, auch mein Vater konnte nicht umhin, die krassen Gegensätze zwischen Santa Cruz und Umgebung zu bemerken. Nichtsdestotrotz, die Eindrücke die er vom Hochland Boliviens mitgebracht hatte, sprachen von weitaus schlimmeren Schicksalen. Sie sprachen von Armut und Unglück, von Hunger und Kälte, von Krankheit und Leid. Wie diese Menschen wohl die Heilige Nacht verbracht haben? Das „traditionelle“ bolivianische Weihnachtsfest ist laut. Man feiert, tanzt, trinkt, schlemmt und dreht die Musik auf. Wir wollten es ruhiger. Gegen Abend kehrten wir zurück. Die Sonne war schon untergegangen und der Himmel von Sternen gesprenkelt. Die Nachtluft jedoch keinesfalls kühl und frisch, sondern eher schwül und warm. Eine kalte Dusche, fast noch unbenutzte gute Kleidung angezogen und dann – Warten. Man hatte uns bestellt, dass wir später zu Abend essen würden, mit den Hermanos und den Niños. „Später“ war dann etwa um 21 Uhr. Hermano Antonio und seine Küchenbrüder hatten sich ins Zeug gelegt. Kolumbianisches Fleisch. Eine Gaumensünde. Es war ein ganz besonderes Weihnachtsessen; Seite an Seite mit den Behinderten, ein grinsender Hermano Antonio, etwas Reggueton aus den Boxen und schließlich die Niños, die lachend mit Wunderkerzen in der Hand zu der Musik tanzen. In dem Moment, in solchen Momenten ist überall, universal die Botschaft von Weihnachten spürbar und ein Lächeln der Niños genügt, um sich wieder daran zu erinnern. Als Eva, Lewin, Papa und ich kurz darauf im Gottesdienst in der Kirche von Cotoca dem Krippenspiel lauschten und danach bei Kerzenschein, Lebkuchen und Paceña-Bier an unserem selbsternannten Weihnachtsbaum zwischen zerfetztem Geschenkpapier saßen, durchströmte mich große Dankbarkeit, Dankbarkeit für jeden einzelnen Augenblick, den ich hier und überall mit wachen und gesunden Augen und Verstand erleben darf.
Der nächste Morgen begann mit dem üblichen nervtötenden Krähen des Hahnes und ich verfluchte innerlich das kolumbianische Nationalgericht dafür, dass es aus Schweine- und nicht aus Hahnenfleisch bestand. Draußen fand ich meinen Vater vor, der schon ungeduldig auf eine Führung durch unser Zuhause und unseren Arbeitsplatz wartete. Eva und ich ließen Lewin schlafen und erzählten meinem Vater von den durchgeplanten Tagesabläufen, von den Strukturierungen in der Aufteilung der Behinderten in verschiedene Pavillons, stellten ihm einige Niños und Mitarbeiter vor, schilderten ihm unsere Projektideen und hörten seinen Anmerkungen und ärztlichen Ratschlägen zu. Er war beeindruckt. Am Nachmittag hatte Enrique uns zu sich nach Hause zum Churasco, Grillfleisch, eingeladen. Eine sehr nette Geste, bedenkt man, dass seine komplette Verwandtschaft zugegen war und kennt man den wahren Wert von Enriques Churasco. Mit der würzigen, meine Zunge umfließenden Grillsauce, dem zarten, saftigen und etwas rauchigen Fleisch zwischen den Zähnen und dem kühl die Kehle hinunterfließenden Bier fühlte ich mich dem Himmel selten näher. Wir blieben bis zum Abend, spielten Basketball, unterhielten uns mit Enriques Verwandten aus den verschiedensten Ecken Boliviens und Südamerikas und genossen immer wieder die Barbecue-Künste unseres Freundes. Mit vollem Magen und vollem Rucksack neben meinem Bett fiel ich letztendlich zufrieden wie ein Baby in einen tiefen Schlaf.
Sekunden später, so kam es mir jedenfalls vor, klingelt mein Wecker. 4.30 Uhr zeigt das Display an. Eindeutig zu früh. Stöhnend verkrieche ich mich kurz unter die dünne Decke, ergebe mich schließlich verbittert dem penetranten Geräusch meines Handys, strecke mich seufzend aus und zwinge meine Bewegungsapparate zur Operation Aufstehen. Wenig später stehe ich im Dunkeln gemeinsam mit meinem Vater vor den Toren des Hogars und belade ein Taxi. Mein erster Urlaub in Bolivien beginnt.
Der überschaubare Flughafen El Trompillo in Santa Cruz bietet vor allem Hobbypiloten und dem Militär eine Basis. Einige wenige kleine Fluggesellschaften bieten von hier aus allerdings ebenfalls Kurzflüge in die entlegenen Ecken und Winkel von Bolivien an. In die kargen Gebirgstäler des schroffen Hochlandes im Westen, die endlosen, grasigen Steppen des Chaco im Osten, die sandigen, staubigen, wüstenähnlichen Hügel Tarijas im Süden und in das dicht bewaldete und sumpfige Amazonien im Norden. Unser Ziel lag im Norden. Der Dschungel von Madidi. Ein besonderer Flecken Erde, der schönste, vielfältigste und artenreichste Nationalpark Boliviens – so sagte man mir zumindest. Die Straßen waren schon seit Wochen unpassierbar; Matsch, Schlamm, Erdrutsche und Überschwemmungen – in vielen Gegenden des Landes ist ein Durchkommen per Bus in der Regenzeit lebensgefährlich oder völlig unmöglich. An jenem 2. Weihnachtstagmorgen geben mein Vater und ich unser Gepäck dementsprechend nicht am Terminal, sondern an einem winzigen Schalter am Flughafen ab. An Bord: Moskitonetze, Moskitospray, Wechselkleidung, drei Paar festes Schuhwerk, Outdoor-Regenjacke, Fernglas, Spiegelreflexkamera, Taschenmesser, ein Buch als Lektüre, Verbandsmaterial, Badehose und natürlich mein Hut. Ich bin selbst überrascht, wie ungewöhnlich reibungslos der Ablauf funktioniert. Dort, wo in den großen Flughäfen der Welt Zeit verloren geht, spart man in El Trompillo: Sicherheitskontrollen, Gepäckröntgen, Metalldetektoren, etc – überflüssig. Mit nicht einmal einer Viertelstunde Verspätung verlassen wir schließlich um kurz nach 6 Uhr die Wartehalle und laufen über das geteerte, von Palmen und alten Lagerhangars begrenzte Rollfeld. Heroisch und eindrucksvoll leuchtet es in der aufgehenden Sonne, mittendrin funkelnd die Maschine, die in einer halben Stunde etwa 800km Luftlinie nach Trinidad, zu unserem Transitpunkt zurücklegen sollte. Die silbernen, glitzernden Tragflächen und gewaltigen Propellermotoren ein Manifest des verwirklichten Traumes vom Fliegen. Die Heckflügel klar erkennbare Messer, bereit durch den Wind zu schneiden, die Luft zu zerteilen. Eine lange Schnauze, keck nach vorne gestreckt, trotzig den Naturgesetzen den Kampf ansagend. Ein paar Techniker ziehen die letzten Schrauben nach, lösen einen Schlauch vom Rumpf. Ich steige die paar Stufen der ausgeklappten Tür hoch, ziehe den Kopf ein und schiebe mich durch die engen einsitzigen Reihen bis zu einem freien Fensterplatz. Etwa 20 andere Passagiere tun es mir gleich. Ein Blick nach vorne. Kein Vorhang, keine Tür verhindert die Sicht auf das Gehirn der Flugmaschine. Es ist erstaunlich einfach. Ein paar Anzeigen und Messgeräte, eine Reihe Knöpfe, Kippschalter, ein Armaturenbrett mit Warnlichtern und Kontrollleuchten in verschiedenen Farben, immer noch genug, um einen gewöhnlichen Passagier wie mich vollkommen zu verwirren, nichts aber im Vergleich zu dem Chaos an Instrumenten und der elektronischen Reizüberflutungen beispielsweise in einer großen Boeing oder einem Airbus. Die Piloten, die Kenner der Gesetze der Maschine und des Fliegens, die Herren der Luft betreten ihren Arbeitsplatz. Keine verweichlichten Lufthansa-Autopilotknopfdrücker hier. Lässig hängen die zwei Charles-Lindbergh-Nachfahren ihre Lederjacken über die schlecht gepolsterten und rissigen Sitze, setzen sich golden eingerahmte dunkle Sonnenbrillen auf die gebräunten und gegerbten Gesichter, klemmen sich die beigen Kopfhörer über die Ohren und durch das Knacksen und Rauschen der Lautsprecher lässt sich gerade noch eine lockere Begrüßung in einer tiefen Stimme ausmachen. Dann legen sie Schalter um, werfen überprüfende Blicke nach rechts und nach links, bewegen ihre Steuerknüppel, starten den Motor. Keine Antwort. Die Rotoren bleiben bewegungslos und ruhig. Ein rotes Licht beginnt zu blinken. Die Piloten schauen sich an, schütteln die Köpfe, zucken die Achseln, versuchen es erneut. Nichts. Nur diese kleine rote Lampe, die keine Ruhe geben möchte. Es hilft nichts. Wir steigen aus. Draußen und auf dem Flughafendeck werden wir Zeuge von dem bolivianischen Luftfahrtingenieurwesen. Eine Handvoll Techniker versammelt sich um den Propeller, wo man den Schaden festgestellt zu haben glaubt. Gelassen und durchdacht geht man an die Sache heran, achtet auf jedes Detail und bespricht sich genauestens, auf dem Boden sitzend, im Kreis, den linken Rotor betrachtend. Irgendwann stößt ein weiterer Mechaniker zu der geselligen Runde hinzu. Offenbar ist er professioneller als seine Kollegen, denn er macht sich sofort ans Werk. Den Fehler macht er allem Anschein nach am Gewicht des Flugzeug fest und beginnt mit Feuereifer Teile aus dem linken Rotor nach dem Schema „Das brauchen wir nicht, das auch nicht, usw.“ zu entfernen. Nach einer Weile wird den Behörden vermutlich bewusst, dass der Eindruck eines entleerten linken Motors den Passagieren und Zuschauern nicht das wünschenswerte und nötige Vertrauen zu einer Fluggesellschaft erwecken könnte und man entscheidet sich, für die weitere Demontage das Flugzeug in eine versperrte Halle zu fahren. Nach einer guten Stunde kehrt unsere lädierte Maschine wieder. Von außen kaum eine Veränderung erkennbar. Sie war noch ganz. Wir steigen wieder ein, ich ziehe den Kopf ein und quetsche mich zu meinem Fensterplatz. Die Piloten schmeißen lässig ihre Lederjacken auf die rissigen Sitze, setzen sich die dunklen Sonnenbrillen auf und drücken eine Reihe von Knöpfen. Die gleiche Prozedur wie über eine Stunde zuvor. Alles gleich, leider auch das rote Licht. Penetrant und frech blinkt es den zwei Piloten und uns entgegen. Entnervt zucken sie erneut mit den Achseln, schauen sich an, drücken wieder die Kippschalterbatterie um und auf einmal ertönt ein tiefes Dröhnen zu beiden Seiten der Maschine. Die Rotorblätter setzen sich schwer in Bewegung und endlich verstummt auch das rote Warnleuchten. Langsam rollen wir zur Startbahn, stellt sich das Flugzeug in Position. Dann greifen die Piloten gemeinsam zu dem Schubhebel, drücken ihn kräftig nach vorne, die Propeller beschleunigen, das Summen, das Brummen wird lauter und der Windsog zieht das Flugzeug nach vorne, schneller und schneller und plötzlich ist da nichts mehr was uns hält. Ein letztes Rütteln und sie hebt ab, Richtung Trinidad, Richtung Norden.
Trinidad ist zwar die Hauptstadt des Departamiento Beni, also vom Rang her etwa vergleichbar mit München in Bayern, ist jedoch nicht annähernd so groß und lebendig. Trinidad ist beschaulich und gemütlich, eine Kleinstadt eben, die nicht mehr zu bieten hat als ein verschlafenes, aber recht liebliches Stadtzentrum. Für meinen Vater und mich folglich ideal, um während dem halben Tag Zwischenstopp unser verpasstes Frühstück nachzuholen, uns schlafmangelbedingt etwas Ruhe zu gönnen und am berühmten Springbrunnen zu flanieren. In einem kleinen, etwas versifften Eckcafé direkt am Plaza genossen wir unseren Kaffee und Salteñas. Das Gepäck hatten wir schon aufgegeben für unseren Weiterflug nach Rurrenabaque, in den Dschungel und nun waren wir voll und ganz konzentriert auf unser Gespräch, auf Erlebnisaustausch von vier getrennten Monaten. Nur eins störte unseren gemütlichen Frühstückskreis, das aus dem nichts mit einem dumpfen Geräusch vor uns auf die Straße fiel. Auf dem Boden zeigt es keine Regung, keinen Laut, zu viel Aufwand, gar nicht in der Natur eines Faultiers. Nein, ein Faultier wartet, bis ein Bolivianer sich erbarmt, es am Rücken packt und zurück in den Baum setzt, wo es dann mit stoisch gemächlichem Tempo wiederum die Wipfel erklettert. Man muss mal gesehen haben, wie sich ein Faultier von einem Baum zum nächsten … biegen lässt? Es ist nicht leicht einen Ausdruck für das gekonnte Manöver, das statische Meisterwerk zu finden, das dieses Tier vollbringt. Es klettert bis zum äußersten Ast des Baumes. Das war bereits der schwierige Teil. Jetzt übernimmt die Schwerkraft die Arbeit. Allmählich gibt der Ast dem Gewicht nach, biegt sich und biegt sich, bis die Spitzen die Krone des nächsten Baumes berühren. Das Faultier braucht nun nur noch einen Arm auszustrecken, ganz langsam natürlich und schon hängt es im nächsten Geäst. Kein hektisches Springen und Schwingen wie bei den Affen, kein Lianentricksen wie bei Tarzan, simple angewandte Physik und ohne Schweißfluss und Muskelzerrung erreicht das Tier sein Ziel. Bezeichnend übrigens, dass die Bolivianer das Faultier nicht wörtlich übersetzt „Animal Flojo“ nennen, aus Selbstschutz und Scham vielleicht? Mancher Deutscher könnte eventuell auch sich an die eigene Nase fassen, wenn er hämisch über das am Baum hängend schlafende Faultier lacht. Das Faultier, einen Teil meiner Haare und etwa 30Bs für Kaffee, Frühstück und Frisur in Trinidad zurücklassend steigen wir am Mittag wieder in unsere Abenteuermaschine und steuern unser eigentliches Ziel an. Rurrenabaque.
Mit krachender Leitung gibt der Pilot das baldige Ankommen durch. Unter uns lichtet sich die Wolkendecke. Bäume. Nichts als Bäume und ihr grünes, dichtes Blätterwerk. Kein Haus weit und breit in Sicht. Kein Tower, keine Landebahn. „Noch fünf Minuten bis zur Landung.“ Es stellt sich mir unweigerlich die simple Frage, wo der Pilot dies zu tun gedenkt und ich überlege bereits fast belustigt, ob ich ihn nicht auf seinen kleinen Irrtum hinweisen soll, als wir plötzlich zwischen die Baumriesen eintauchen und die Gummiräder in einer Qualmwolke schlagartig auf hartem Teer aufsetzen. Eine neue Landebahn, eine lehmige und von Schlammlöchern zerpflügte Graspiste und ein Haus, das einer Farmscheune alle Ehre macht, aus mehr besteht der „Aeropuerto de Rurrenabaque“ nicht. Die Ausstattung der Bodencrew beschränkt sich auf einen heruntergekommenen und klapprigen Kleinbus, einen alten, dünnrädigen Traktor, einen schiebbaren Löschwagen, der mir aus einem Bilderbuch antiker Feuerwehrgeräte unheimlich bekannt vorkam, einem Tankanhänger, ähnlich den Düngemitteltransportern auf heimischen Feldern, und einem haushaltsgebräuchlichen Feuerlöscher, sozusagen als mobile Einheit der Rettungskräfte. Kurzum, ein Flughafen, an dem der abenteuerliche Wert des Fliegens noch nicht seinen Reiz verloren hatte. Meine Vorfreude auf die Woche steigt. Unser Guide für die kommenden fünf Tage wartet hinter dem Flughafenschuppen auf uns. Sein Name ist Jimmy. Auf den ersten Blick erweckt nur seine grüngelbe Safari-Weste den Eindruck eines Dschungelexperten und Hobbytarzans, doch wir würden bereits bald an seinem tiefgründigen Wissen teilhaben und von seinen Erfahrungen im Leben im Einklang mit der Natur profitieren dürfen. Von seinen knapp 30 Jahren hat er nun schon neun Jahre als Touristenführer im Wald verbracht, aber seit seiner Kindheit ist Amazonien seine gewohnte Umgebung, sein Zuhause und er weiß um die Fragilität dieses Schatzes der Welt, ist sich auch der Gefahren des Tourismus bewusst. Einer der wenigen Bolivianer mit einem wahren Umweltbewusstsein. Vom Flughafen bis zum Zentrum des kolonial und asiatisch anmutenden Dschungelstädtchens Rurrenabaque sind es etwa 20 Minuten holprige Fahrt über altes Pflasterstein, rissigen Teer und Schlammstraßen. Es hatte geregnet die letzten Tage, der Himmel ist verhangen von schweren graublauen Wolken. Ein kleiner Gruß der Regenzeit in der niederschlagsreichsten Gegend Boliviens, in Amazonien. Der Fluss Beni, an dessen Ufern sich die Häuser von Rurrenabaque auf vermoderten, hölzernen Stelzen in den seichten Schlick graben, führt viel Wasser in diesen Monaten, ist groß und reißend. Rurrenabaque selbst lebt von ausländischen Besuchern. Der Ruf der „Perle Benis“ hat sich international herumgesprochen und spätestens seit dem Bestseller „Back from Tuichi“ des israelischen Abenteurers Yossi Ginsburg hat sich Rurrenabaque als beliebte Anlaufstelle von Backpackern aus aller Welt etabliert. Ginsburg hatte von hier aus eine blauäugige Tour in den Dschungel unternommen, auf eigene Faust, ohne Ortskenntnisse. Ein Unterfangen, das schon vielen Besuchern das Leben gekostet hatte. Mit letzter Kraft kehrte er auf einem selbstgebauten Floß zurück. Der Leiter der Suchtrupps, Tico Tudela, wurde Guide und eröffnete das erste Reisebüro. Rurrenabaque entwickelte sich zum touristischen Kern des bolivianischen Amazonasgebiets und wuchs zu einer lebendigen Kleinstadt von 13 000 Einwohnern an.
Im Büro von Bala Tours, einem für seinen rücksichtsvollen Umgang mit der Natur international ausgezeichnetem Anbieter, angekommen besiegeln mein Vater und ich mit unseren Unterschriften und einem Bündel amerikanischer Banknoten unser Schicksal, kein Weg mehr zurück, der Dschungel hat uns jetzt, unser Leben in den Händen unbezwingbarer Natur. Uns bleibt noch ein wenig Zeit, uns auf dem Markt mit etwas Verpflegung, zwei saftigen Äpfeln, einer Gratisbanane, trockenem Kuchen und Wasser einzudecken. Dann besteigen wir unser Boot. Es ist schmal, macht mehr den Eindruck einer grüngelb bemalten venezianischen Gondoliere mit Motor und Dach, als einer strömungstauglichen und wellenresistenten Fähre. Augenscheinlich alles andere als gewappnet und bereit einem der großen Zubringer des Amazonas, dem Río Beni, der von diesen 350m Höhe seine Wassermassen bis zum Atlantik pumpt, zu trotzen legen wir ab, lösen die Knoten und stoßen uns vom Land ab, lassen den Motor rasselnd an. Ich sehe bereits hinter uns die letzten Anzeichen der Zivilisation verschwinden, entdecke nur noch hie und da zwischen dem undurchdringbaren Grün der Bäume ein hölzernes Bauernhaus oder erkenne dann und wann ein kleines Boot, einen ausgehöhlten Baumstamm oder ähnliches, vertaut in der dichten Uferböschung, als uns Jimmy darauf aufmerksam macht, dass hier mehr als einmal im Monat Fischer kentern. „Muy peligroso es“, sagt er entschuldigend und reicht uns ein Paar Schwimmwesten. Stromaufwärts geht es. Die Wellen schlagen gegen die tiefen Kanten, immer wieder peitscht Gischt gegen unsere Gesichter, schwappt Wasser über die Kanten. Strudel reißen an uns, schleudern das Boot herum und von der Strandbewachsung weggerissene Äste und Stämme, sowie Müll schrammen unter uns hinweg. „Aus den Bergen, aus La Paz“, brüllt Jimmy erklärend und sein Blick wandert traurig über die leeren Plastikflaschen und Kanister, die der Strom an uns vorbeispühlt. Seine Stimme wird fast verschluckt von dem Brummen des Motors und dem Lärm der aufgebrachten Wassergewalt. Der Kapitän umklammert sein Ruder. Unsere bolivianische Dschungelgondoliere schaukelt gefährlich. Wir nähern uns der Passage zum Park. Vor uns erstreckt sie sich, eine Gebirgskette, urplötzlich baut sie sich vor uns und vor der ewigen Ebene Amazoniens auf, endlos verschwindet sie zu beiden Seiten in der Ferne in nebulösem Nichts. Ein natürlicher Schutzwall. Ein monströses Stop an die zerstörerische menschliche Zivilisation. Gewaltig. Nur der Río Beni gibt einen kleinen Zugang, schnitzt eine enge Kerbe in die scharfe und bedrohliche Gebirgskante. Der Fluss wird schmaler, die Strömung stärker, kaum zu bewältigen. Der Motor röchelt und kämpft. Unser Kapitän steht unter Höchstspannung. Ich ignoriere das Unheil verheißende Trudeln und Schlingern, bin wie gebannt von dem Anblick, der sich uns bietet, von den steilen Hängen, die wir passieren. Es ist eine Pforte, eine Pforte zu einer unberührten, kostbaren Welt. Auf einer der Klippen lässt sich auf einmal ein Affenkopf ausmachen, wie in den Fels gemeißelt. Die Magie des Moments ist fesselnd. Ich wage kaum zu atmen und plötzlich sind da keine hohen Berge mehr, plötzlich öffnet sich vor uns die Mauer aus Stein und nichts mehr behindert unsere erste Sicht auf den Nationalpark Madidi. Endloser Dschungel breitet sich vor uns aus. Nur ganz schwach sind am Horizont die Konturen der Ausläufer der Anden auszumachen. Vögel und Papageien gleiten zwitschernd und kreischend über das Firmament. Im Schilf am Ufer huscht ein Tier davon, das dem Aussehen nach einer Kreuzung aus Wasserratte, Biber und Schwein zuzuordnen ist. Madidi beherbergt über 44% aller Tierarten der Neuen Welt und beinahe sämtliche Ökosysteme von den tropischen Regenwald auf 200m bis zu den kargen, schroffen Hochzonen der Anden auf bis zu 6000m. Er ist ein buntes Paradies, ein 19 000km2 – großes Beispiel für die Vielfalt und Schönheit der Natur und Vegetationen in Bolivien. Vor einer Lichtung mit einem etwas verblichenen Schild mit dem Namenszug des Nationalparks machen wir kurz Halt. Aus einem wackeligen Klappstuhl erhebt sich ein Mann, dem man seine Hauptbeschäftigungen bereits aus dem Boot aus ansieht. Alkohol, Drogen und Übermüdung haben Mitschuld daran, dass es eine Weile dauert, bis wir von dem Parkwächter eine Eintrittserlaubnis erhalten. Unsere Fahrt geht weiter, meine Augen haben Mühe die Fülle der Eindrücke einzufangen, alles vergeht wie im Flug. Wir biegen in einen anderen Fluss ein, dem Río Tuichi. Er ist ruhiger, kein reißender, aggressiver Strom, und sauberer, verschont von den Großstädten und Provinzen in den Anden. Ein Boot gesellt sich zu uns. Indianer. Angehörige des Stammes Tacaní. In ihrer Sprache bedeutet Madidi „stinkende Ameise“. Die Vorfreude meines Vaters, von Beruf Tropenmediziner, auf ausgefallene Insekte und spannende Überträger interessanterer und wundervoller Krankheiten steigt. Auf einmal taucht ein weiteres Schild auf, auf einer sandigen Landzunge, die meterhoch mit Schilf und dünnen Laubbäumen bewachsen ist; „Welcome – Bala Tours – Tacuaral“. Ein paar Menschen warten bereits auf uns. Mit einem ausladenden Armschwung schleudert Jimmy das dicke Seil zu einem kleinen Jungen, der sich eifrig und mit flinken, geübten Bewegungen daran macht, uns am nächsten Bäumchen festzubinden. Ich springe von Bord, würde gerne beim Ausladen helfen, aber die Bolivianer sind schneller. Unser Rucksäcke geschultert leiten sie uns auf einen schmalen Pfad, der sich durch den Farn und Schilf windet, überqueren mit uns die Landzunge. Ein ausgehöhlter Baumstamm liegt auf der anderen Seite bereit, um uns über das seichte Bachbett zu bringen. In dem warmen Licht der tief stehenden Nachmittagssonne und dem unbeweglichen, spiegelnden Wasseroberfläche wirkt der Schein einer Gondoliere perfekt. Lange Schatten wirft unser Kapitän, der stehend mit einem langen Stab unser Bot nach vorne drückt. Angenehm ruhig gleiten wir dahin, der Lärm der Großstadt Santa Cruz liegt weit zurück. Plätschern, das Knarzen der Bäume, hin und wieder ein Rascheln, und ein Krächzen oder Zwitschern, das sind die einzigen Geräusche. Um uns herum ist nichts als die reine Natur. Es ist wunderschön. Wir legen auf der anderen Seite an, laufen wieder ein Stückchen bis sich schließlich vor uns eine Lichtung auftut. Ein paar hölzerne Häuser, mit getrockneten Palmenblättern bedeckt, ein Turm mit Wasserbehälter oben aufgesetzt. Hängematten hängen zwischen den Pfählen die das Dach halten, ein paar Schaukelstühle aus Bast stehen herum. Pflanzen und Bäumchen symmetrisch angeordnet, Kakao, Kaffee, Banane, Papaya, Äpfel, Mango, etc., kleine Gärten. Tacuara-Ecolodge, unsere Unterkunft für die nächsten drei Nächte. In den Palmen über uns krächzen Papageien, ich bin zufrieden.
Am Abend nachdem mein Vater und ich uns in unseren Zimmern eingerichtet haben, startet unsere erste Exkursion. Wir wollen Madidi im Dunkeln erleben, können für unseren ersten Ausflug in das dichte Blätterwerk, das das behütete Gelände der Lodge umgibt, nicht bis zum nächsten Tag warten, wollen unsere ersten Eindrücke des angeblich schönsten Nationalparks Boliviens sammeln. Nur noch fahl dringen die letzten vereinsamten Strahlen der bereits verschwundenen Sonne durch die Bäume, als uns Jimmy auf einem engen Pfad in den Dschungel führt. Er hat eine Machete in der Hand, läuft in Flip-Flops, trägt eine hochgekrempelte Stoffhose, T-Shirt und Cappy. Die typisch leichte und simple Ausrüstung eines bolivianischen Guides. Die Zikaden beginnen zu zirpen und der Weg wir langsam düsterer. Irgendwo raschelt es. Im Licht unserer Taschenlampen ist auf dem Boden das Leben der Insekten auszumachen, eine Schnecke kriecht vorbei, faustgroß. Es raschelt wieder und in der Ferne zwitschert ein Vogel. Jimmy nennt einen Namen. Erst auf Spanisch, dann auf Latein, dann auf Englisch. Ein wanderndes Lexikon. Er würde noch viele Namen nennen und ich würde noch häufig verbittert mein Gedächtnis zur Rechenschaft ziehen. Über das Zirpen der Zikaden mischt sich nun ein anderes Geräusch, ein Quaken, Frösche. Im Dunkeln öffnet sich vor uns eine Ebene, Lichter leuchten auf ihr wie auf einem Friedhof. Es dauert einen Moment bis ich realisiere, dass es sich um einen See handelt. Die Sterne spiegeln sich darin. Der Mond lässt die umstehenden Bäume in einem fahlen Licht leuchten, totenbleich und weiß spiegelt auch er sich in der Wasseroberfläche. Es ist gespenstisch und überwältigend. Ich halte inne, mein Atem stockt. Ein paar der Lichter bewegen sich. Sie tauchen auf und ab, fliegen nach links und nach rechts, Glühwürmchen führen ihren Tanz auf. Wieder kreischt ein Vogel. Wir suchen noch die Oberfläche mit den Taschenlampen nach roten Kaimanaugen ab und kehren dann um. Das Essen, das wir wenig später im niedlichen Speisesaal serviert bekommen, übersteigt beinahe alles, was ich bisher in Bolivien verspeist hatte und während wir Crêpes, Reisbrot, Cuñapé und Empanadas mit Obst genießen, planen wir gemeinsam mit Jimmy bereits den nächsten Tag, den nächsten Ausflug in den Dschungel. Mit dem Zirpen der Zikaden, dem Rauschen der Bäume und dem Fiepen einer Fledermaus, die unter der Decke meines Zimmers ihren Mitternachtsimbiss jagt, schlafe ich kurz darauf unter meinem Moskitonetz tief und fest ein.
In der Nacht regnet es und es ist tropisch feucht-warm, als wir uns am nächsten Morgen, nach einem herzhaften Frühstück, in die Büsche schlagen. Schlammige Wege ändern nichts an Jimmys Ausrüstung. Er bleibt bei der leichten und lockeren Variante, die unsereins mal abgesehen von der Machete wohl eher für einen Strandurlaub wählen würde. Immer wieder bleibt er stehen. Wir kommen kaum voran, lernen dafür viel, bekommen viel gezeigt, vor allem viel Kleines, Krabbelndes, irgendwie Ekel erregendes. Nicht so, bei meinem Vater. Etliche Momente verbringen wir damit, das Makroobjektiv seiner Spiegelreflex auf die schärfste Fokusierung einzustellen, die richtige Position für den zweiten beweglichen Blitz zu finden. Wir warten, wenn er sich erneut durch das Geäst am Wegesrand kämpft, wie ein Kind um eine Kugel Schokoladeneis, um die Machete bettelt und sich für ein neues Foto einen Durchgang bis zu einer Stelle zwischen Palmblättern und Farnen erhackt. Ein Tropenmediziner auf Entdeckungstour im Dschungel, ein kleiner Junge im Freizeitpark. Staunend aufgerissener Mund, weit offene irre Augen und begeisterte Ausrufe, freilich nicht wegen einer Achterbahn mit fünffachem Looping und 70°-Gefälle, sondern wegen einer fingernagelgroßen, braunen Ameise mit Beißerchen, die 24 Stunden höllischen Schmerz in allen Gliedern verursachen. Doch, das Verhalten ist ziemlich exakt dasselbe. Ich muss lächeln, bin froh, dass ich offensichtlich einen guten Griff mit dieser Reise gemacht habe, und bin selbst dankbar, das alles mit ihm miterleben zu dürfen. Wir kreuzen eine Straße, dem Verkehr nach zu urteilen fast eine Autobahn. Blattschneiderameisen auf dem Weg zu ihrem Bau und wieder heraus, Rushhour sozusagen. Sie transportieren Blätter, die fünfmal so groß sind wie sie selbst. Einige haben die anspruchslose Variante gewählt und trampen, lassen sich per Anhalter auf der Ladefläche, auf dem Rücken der Ameisen ein Stückchen mitnehmen. „Faulheit“, meint Jimmy lachend und erklärt uns, dass die Blätter nicht zum Verzehr gedacht sind, sondern in kleinen Kammern im Bau unter der Erde abgelegt werden. In der feuchten Dunkelheit unter der Erde können Pilze auf ihnen wachsen und diese landen letztendlich auf der Speisekarte der kleinen Sechsbeiner. Agrarökonmie in Mini, und das vermutlich schon lange bevor die Gehirnwindungen der Menschen derartige Ideen produzieren konnten. Ich habe Respekt, Respekt vor der Natur. Erst im Regenwald, in seiner Vielfalt und Einzigartigkeit wird einem ihr Meisterwerk, ihre Schönheit und Fragilität, ihre von uns Tölpeln nur wenig durchschaute Kunst annähernd bewusst. Wir schlagen uns durch das Geäst, Gestrüpp und Laubwerk, schieben mannsgroße Blätter und dorniges Gesträuch zur Seite und erkämpfen uns den Durchgang zu einem gewaltigen Baumriesen. Erhaben und verwunschen taucht er plötzlich getaucht in gleißende Streifen von hellem Sonnenlicht auf, sein Stamm so dick, dass drei ausgewachsene Männer ihre Arme ausstrecken und ihn zeitgleich umarmen könnten, ohne dass sich ihre Fingerspitzen berühren würden. Stark und mächtig graben sich seine Wurzeln um ihn in den Boden, seit Jahrhunderten unverrückbar. Sein Holz glänzt in einem anmutenden Rostrot, ist leicht fasrig und weich. „Ein Mahagoni-Baum, der kostbarste Amazoniens und einer der einzigen verbliebenen in Madidi.“, erläutert Jimmy. Traurig, dass Monat für Monat durch Raubschlag, Sojaanbau und der Rinderzucht um die 350 Quadratkilometer Wald den Kettensägen oder dem Feuer zum Opfer fallen. Seit 1970 hat der Regenwald bereits ein Fünftel seiner Fläche verloren. Nicht nur traurig, sondern leider auch ein neuer Beweis der Kurzsicht, Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit unserer sogenannten „intelligenten“ Art. Die Zerstörung der Wälder ist für 20% der globalen Treibhausemissionen verantwortlich, 20% der weltweiten Süßwasservorkommen liegen in Amazonien, 80-120 Tonnen Kohlenstoff werden hier gespeichert, 20 Millionen Menschen haben hier ihr Zuhause. Angesichts des mächtigen Baumkönigs vor mir und des tiefen undurchdringlichen Grüns, des scheinbar unzerstörbaren Waldes um mich herum brauche ich Zeit, um diesen Denkanstoß zu verarbeiten, mir des Wissens, das in vielen Köpfen vorhanden, aber verdrängt ist, vollkommen gewahr zu werden. Zwei verschiedene Typen von Wald sind im tropischen Regenwald von Amazonien vorhanden. Der Primäre beschreibt das Gestrüpp, die kleineren Bäume und Palmen, einen recht unempfindlichen Lebensraum, den der Mensch nutzen kann, ohne Schaden anzurichten. Der Sekundäre jedoch umschließt uralte Baumgiganten, Farnriesen und mystische Flecken seit Menschengedenken unberührter und fragiler Natur. Ich stehe mittendrin, in einem Schatz, den es zu beschützen gilt, einem Juwel der Welt. Jimmy bleibt stehen. Auf dem Boden liegt ein vermoderter, angefaulter Stamm. „Das perfekte Zuhause der Skorpionmutter“, meint unser Dschungelexperte und schnitzt Kerben in das morsche Holz, gräbt mit der Machete tiefer bis nach einer Weile ein unscheinbarer Käfer zum Vorschein kommt, schwarz glänzend, der Größe und dem Aussehen nach ganz ähnlich dem in Deutschland heimischen Hirschkäfer. Die Beschreibung, die nun folgt, kann ich immer noch nicht so ganz glauben. Der Käfer hat rein äußerlich und verhaltenstechnisch nichts Besonderes oder Außergewöhnliches an sich. Nur ein kleiner Fehler wird ihm wieder und wieder zum Verhängnis, seine Schwäche für Skorpionkot. Unser Insekt gönnt sich also ab und zu gerne mal ein kleines Scheißhäufchen und sobald seine Leibspeise in seinem Körper ist, nimmt sein Schicksal seinen Lauf. Die Eier der Skorpione schluckt er gleich mit und in ihm beginnen von dem Moment an, die Skorpionbabys zu reifen, die Gastfreundschaft ihres Wirtes voll und ganz auszukosten. Irgendwann ist ihnen die Hülle zu eng und sie fressen sich ihren Weg ins Freie. Kein schöner Tod. Mit offenem Mund lausche ich Jimmys Schilderungen, schenke dem Käfer ein paar zweifelhafte Blicke, kann der Geschichte kaum glauben, besser gesagt: könnte ihr kaum glauben. Aber zwischen mannshohen Palmenwedeln, dem Summen des verschwimmend schnellen Flügelschlags winziger bunter Kolibris und dem dumpfen Plop vereinzelter, in den Farben des Regenbogens schillernder Wassertropfen, unter oberschenkeldicken Lianen und einem grün leuchtenden Blätterdach, neben faustgroßen Blütenknospen und Dschungelwolkenkratzern aus der Urzeit, zusammengefasst in einer magischen und unwirklichen Umgebung schwinden meine Zweifel. Wir setzen unseren Weg fort, stapfen durch Matsch und modriges Laub, klettert über tote und gestürzte Stämme, balancieren auf behelfsmäßigen Baumbrücken über breite Sumpfflächen, gelangen ans Ende der Landezunge, genießen den Blick auf den Fluss und schauen begeistert den bunten zwitschernden Vögeln nach. Mittags kehren wir zurück zur Lodge. Eine kurze Stärkung, eine halbe Stunde Pause, dann lockt er uns wieder, der Zauber des Regenwalds und wir brechen erneut auf.
Eine wahrhaftig eigenartige Expedition hatte Jimmy gemeinsam mit einem anderen Guide zusammengestellt, drei Australier, davon einer sesshaft in Peru, zwei Deutsche und zwei indianisch stämmige Arbeiter aus dem Camp, unsere Gruppe war frei gewürfelt und gewachsen. Das Ziel lag irgendwo im Dschungel, ein sagenumwobener Majo-Baum. Was Majo war, würde ich erst später lernen. Wir fünf Ausländer folgten schlicht und einfach unseren Anführern, tiefer und tiefer in den Wald, Grün verschlang uns. Plötzlich hob Jimmy eine Hand, rührte sich nicht mehr vom Fleck. Keiner von uns sprach mehr ein Wort, ob Englisch, Deutsch, Spanisch oder Tacaní, alle hielten gebannt den Atem an. Dann begann es. Ein Rascheln in den Baumkronen, ein entferntes Knacken, ein lauter Schrei und das Blätterdach erwachte zum Leben.
Affen über Affen, springend, schwingend, kletternd, hängend. Eine Horde Totenkopfäffchen auf der Durchreise, ohne Rücksicht auf Geschwindigkeitsbegrenzung, Luftfahrt, die kleinen, gelben Racker waren überall und gleich wieder weg. Nur in der Ferne ließen sich zwischen zwei Stämmen noch die akrobatischen Künste zweier Kapuzineraffen beobachten, die sich der coolen Totenkopfbande angeschlossen hatten. Dann war es schon vorbei. Ein paar Blätter segelten zu Boden, ein letzte Zweig fiel herab, der Dschungel hatte sie wieder verschluckt und ließ uns auf dem Pfad mit offenen Mündern stehen, in vollkommener Verwirrung über den flüchtigen Moment der Raserei über unseren Köpfen. Ich sah meine Kamerabilder durch. Von einigen akzeptablen Aufnahmen grinsten mich kleine schwarze, pelzige Totenköpfe auf gelben athletischen Körpern an. Es war tatsächlich passiert.
Etwa zwei Stunden später halten wir aufs Neue an. Ich war in ein Gespräch mit einer Australierin verwickelt, bemüht in meinem neuartigen Hispanoenglisch halbwegs verständliche Sätze zu produzieren. Derartig hoch konzentriert hatte ich nicht bemerkt, wie unsere Gruppe geschrumpft war. Jetzt, da ich um mich schaute, erkannte ich, dass drei fehlten: die zwei Indígenas und der andere Guide. Jimmy blickte ebenfalls besorgt nach hinten. Wo waren die drei? Noch bevor ich mir eine Antwort auf die Frage überlegen konnte, kündigte ein Pfeifen die Ankunft eines Menschen an. Es war der verlorene Guide. Er lief, nein, er rannte auf Jimmy zu, rief bereits von Weitem irgendetwas Unverständliches. Schnaufend redete er leise und hastig auf unseren Anführer ein, verhaspelte sich in schnellem Spanisch. Seine Mine war ernst, Jimmys Gesicht unlesbar. Drei Dinge meinte ich aus dem eiligen und geflüsterten Kauderwelsch herauszuhören: „Schlange“, „Juan“ (offenbar der Name einer der beiden Indígena) und „liegt am Boden“. Während wir zurückhetzten, spielten sich in meinem Kopf die schlimmsten Horrorszenarien ab; eine vermutlich giftige Schlange, ein Biss und ein bereits kollabierter Mann. Wir, mitten im Dschungel, kein Krankenhaus oder Gegengift weit und breit, allein der Rückweg zur Lodge über zwei Stunden. Mein Vater, einziger anwesender Arzt, war bleich, seine Gesichtszüge todernst. Ich weiß bis heute nicht, was in diesem Moment, in seinem Kopf vor sich ging. Wie bereitet sich ein Arzt darauf vor, einen sicheren Sterbefall völlig ohne Ausrüstung zu behandeln? Wie geht man damit um, der einzige Hoffnungsträger in einer auswegslosen Situation zu sein? Ich kam nie auf die Idee ihn zu Fragen, kam Gott sei Dank auch nicht in die Lage mitzuerleben, wie er hätte handeln müssen. Wie er jemanden zu seinem Grab begleitet hätte. Der Mann saß am Boden, die Augen starr auf die kniehohe Bewachsung am Wegesrand gerichtet. Der – oder besser gesagt – das einzige, das regungslos lag, war die Schlange. Ich verfluchte mich und mein Spanisch, das mich offensichtlich immer noch nicht gänzlich vor Missverständnissen bewahrte, besann mich aber gleich darauf im Stillen und war zunächst einfach nur dankbar, dem Schockerlebnis entgangen zu sein. Die Schlange war schön. Schillernd gold-grün genoss sie den kühlen Boden, keiner von uns konnte sie aus der Ruhe bringen. Sie akzeptierte die Kamera, posierte für die Fotos. Erleichtert machten wir uns wieder daran, unsere volle Aufmerksamkeit dem eigentlichen Ziel unserer Expedition zu widmen. Dem Majo-Baum.
Es braucht noch eine weitere Stunde querfeldein Marschieren, Machetenschwingen, Astbiegen und Matschwaten, dann taucht er endlich vor uns auf. In einem kleinen Tal, die Hänge herum mit nassem Laub und altem brüchigen Geäst übersät, schlammig und rutschig. Recht frei und alleine steht sie da, die Palme, an der Majo wächst. Ein Individuum unter vielen Palmen, geehrt und ausgezeichnet mit einer Frucht, die Pflaumen ausgesprochen ähnlich sieht, sich nicht aber mit einer flüchtigen Armbewegung vom Baum erhaschen lässt. Ich lege den Kopf tief in den Nacken, blinzele gegen das leuchtende Blätterdach. Hoch über uns hängen sie, direkt unter der weit ausladenden, mächtigen Krone der Palme. Normalerweise erklettern die Eingeborenen den astfreien Stamm, indem sie Lianenstränge um den Baum schlingen, sich mit Füßen und Händen in die simple und behelfsmäßig fragliche Sicherung einhängen und sich mit den Bewegungen eines Wurms hochwinden. Einen Versuch dürfen wir beobachten. Einen Meter Höhe bestaunen. Dann kapitulieren die Lianen vor der feuchten, vermoosten, glatten Rinde, die Schwerkraft gewinnt. Die traditionelle Variante kann also für uns nicht die Lösung sein. Die Machete übernimmt den Part. Jedes halbe Jahr kauft sich Jimmy eine Neue. Im Geflecht des Dschungels ist sie unerlässlich, wenn sein muss sogar lebensrettend, situationsentscheidend, wie in unserem Fall. Mit gezielten, präzisen und starken Schlägen haut der noch vor anderthalb Stunden quasi tot geglaubte Juan auf einen jungen Baum ein, trennt ihn von seinen Wurzeln und Zweigen. Mit vereinten Kräften jagen wir ihn in den Himmel, gen Majo-Frucht, lassen es Pseudo-Pflaumen regnen. Mehrere Dutzend Male. Dann sind unsere Taschen gefüllt. In der Lodge, am Abend erfahren wir wofür. Majo wird zunächst gedünstet, in lauwarmen Wasser, etwa 15 Minuten lang, danach zerstampft, in den typischen Holzbottichen, mit Stößeln, so groß und so schwer wie mein Bein. Ein graubraun, beiger Brei entsteht, zu dem normales Trinkwasser hinzugegeben wird. Weiterstampfen und schließlich über einem Sieb abgießen. Mit Zucker abschmecken. Die Majo-, die Regenwaldmilch ist fertig. Den leicht gewöhnungsbedürftigen, etwas wässrig herben Geschmack noch auf der Zunge, setze ich mich in der Nacht an einen Holztisch im Speisesaal und schreibe Weihnachtspost, die mein Vater über den Atlantik bringen soll. Eine letzte, flimmernde Glühfunzel spendet mir Licht. Alle anderen sind bereits unter den Moskitonetzen in ihren Schlaf gefallen. Nur die Zikaden und Frösche geben der Nacht eine beruhigende, stille Geräuschkulisse und meine Gedanken wandern ins ferne Deutschland, zu Verwandten und Freunden, zu Wintertemperaturen, Kaminfeuer und Plätzchen, zurück zu einer anderen Welt.
Am nächsten Tag klingelt mein Wecker früh. Wir haben eine ausgedehnte Tour vor uns. Erst am Abend sollten wir wieder zur Lodge zurückkehren. Unser Mittagessen nehmen wir also mit. Der Kapitän von der Ankunft, selbst ein kleinwüchsiger Indígena, der Statur nach ein weiterer Mogli aus dem Disney-Bilderbuch, begleitete uns, half uns mit der Last. Leider habe ich seinen Namen vergessen, der Einfachheit halber nenne ich ihn hier Chaco. Wir brechen mit dem Boot auf. Es geht weiter flussaufwärts, weiter weg von der Parkgrenze, von der Zivilisation. Sanft knattert der Ökomotor, plätschert der Bug unserer Amazonas-Gondoliere im flachen, trüben Wasser. Die Ufer zu beiden Seiten sind voll von Leben. Reiher stolzieren auf ihren stelzenartigen Beinen durch das seichte Schilf, Papageien steigen aus dem undurchdringlichen Grün des unberührten Mix aus Lianen, Bäumen, Palmen, Büschen und Farnen auf und in den überhängenden Grotten am Flussrand entdecken wir auf einmal erneut dieses Tier, dessen deutschen Namen herauszufinden mir schier unmöglich ist. Es ist eine Kuh. Die steilen Klippen hinter ihr lassen ihr kein Rückzugsgebiet. Wir verharren nur eine Weile, bestaunen Fotos knipsend die Absonderheit der Natur, dann lassen wir sie zurück, wollen sie nicht mehr verängstigen. Wenig später knirscht der Rumpf des Boots über steinigen Sand und kommt schleifend zum Stehen. Mit einem gekonnten und beherzten Satz springt Jimmy von Bord und versinkt knöcheltief im Morast. Fluchend zieht er sich seine Offroadflip-flops von den Füßen und schaltet auf den geländetauglicheren barfüßigen Gang um. Den Kampf mit den Verschnürungen meiner festsitzenden Wanderschuhe spare ich mir lieber, suche mir vorsichtig einen festen Boden unter den Füßen. Nach etwa 20 Metern Strandsumpf und hüfthohem Schilf und Gras erreichen wir die ersten Bäume und ich spüre wieder Widerstand unter mir. Es bleibt jedoch weiterhin matschig, der Regen hat die Erde in der Nacht erneut aufgeweicht. Der Schlamm zerrt an unseren Beinen, hängt wie Blei an unseren Schuh- bzw. Fußsohlen. Moskitos und andere unbestimmbare Insekten schwirren summend um unsere Köpfe. Die tropische, schwüle Hitze erdrückt uns. Unsere Kleidung ist nass geschwitzt. Die Welt, die wir betreten, ist diese Laster wert. Selbst der alte Hase und Dschungelveteran Jimmy kriegt einen Anfall von Begeisterung, als in den Ästen über uns ein Eichhörnchen von Baum zu Baum segelt. Weder mein Vater noch ich lässt der Anblick eines entfernten Verwandten unseres heimischen Gartenbewohners ungläubig nach Luft schnappen, es ist die Umgebung, die Natur, die uns ins Staunen versetzt. Das Blätterwerk von Palmen, Büschen und Farngewächsen lässt uns keine fünf Meter weit sehen, der Boden ist vollkommen verdeckt. Junge, dünne Bäume kämpfen sich mühsam in die Lüfte. Am Wegesrand sprießen rohartige Farne in die Höhe, seit dem Anbeginn des Lebens auf der Welt kaum verändert, seither perfekt und vollkommen. Elegant strecken sie sich empor, gerade und ohne Makel. Alle 20 cm einen gen Sonne gebogenen Ring aus spitzen Sprösslingen formend, an dem klare, glitzernde Wassertropfen hängen. Kurz verändert sich die Landschaft. Es wird lichter. Die einzigen Baumriesen sind verdorrt und tot. Niedrige Gewächse, Urzeitfarne und Blüten in bisher ungesehenen Formen und Größen bestimmen für einen Moment das Landschaftsbild. Dann haben wir sie passiert, die Grenze von Primär und Sekundärwald und treten ein, in das Zuhause der Baumriesen. Gigantisch recken sie sich dem Himmel entgegen, ihre Kronen bilden ein gewaltiges Dach hoch über unseren Köpfen, bilden ein enges Netz aus Zweigen, das alle freien Lücken ausfüllt. Lianen hängen wie überdimensionierte Schmuckstücke und extravagante Ketten von dicken Astarmen. Ich erklettere den nächstbesten, packe eines der frei schwingenden Accessoires und gönne mir das Erlebnis Tarzans Fortbewegungsmittel Nummer Eins. Für die längere und effektive Nutzung bin ich allerdings noch zu unprofessionell und mit Schrammen an den Händen besinne ich mich lieber auf die Geschenke, die ich an meinen Beinen trage. Über schmale Bächlein springen wir, klettern über sperrige Wurzeln, ziehen uns gegenseitige steile, matschige Pfade hinauf und erreichen irgendwann schwitzend und schnaufend die Kuppe eines Hügels, dem Ziel unserer Expedition. Es ist Mittagsessenszeit. Wir sitzen auf dem Boden und genießen den Ausblick, während Jimmy und Chaco auf Palmenblättern unser Mahl ausbreiten.
Vor uns bricht steil eine Kante ab, mehrere Dutzend Meter darunter beginnt das Blätterdach des Urwalds Madidi. So weit das Auge reicht bestimmen grüne Baumkronen die malerische Aussicht. Ein paar Flussläufe winden sich in dem Meer aus Pflanzen, Hügel geben in der Ferne einen besonders kunstvollen Akzent. Ein verwuchertes Schild gedenkt einem israelischen Wanderer, der aus Übermut an dieser Stelle in den Tod stürzte. So traurig es auch sein mag, er hatte einen schönen Ort gewählt. Plötzlich steigen Papageien aus der Tiefe auf, Aras, immer zu zweit. Wir entdecken weitere Pärchen knapp über den Bäumen, kreischend und flatternd. In der Sonne leuchtet ihr rot-blaues Gefieder. Idyllisch und unvergesslich ist unsere Speise. Wir verschlingen jeder einen Topf und hätten uns eine ganze Weile mit vollem Bauch ausgeruht, würde es nicht merklich dunkler werden und ein Donnern Unheil ankünden. In der Ferne ist der Himmel bereits regenverschleiert. Eilig stapeln wir die Töpfe, packen unsere Sachen zusammen und stolpern den Pfad zurück, stets begleitet vom Kreischen der Aras, entlang steiler Klippen und ausladender Palmen. Laut Jimmy benutzten und benutzen die Indígenas den Stamm jenes Baumes, um festzustellen, ob das ungeborene Kind einer schwangeren Mutter bei einem Unfall zu Schaden gekommen sei. Man schneide die Rinde an und warte einen Mondmonat ohne nachzusehen und kehr erst dann zurück. Ist die „Wunde“ gut verheilt, sei das Baby unverletzt und gesund, wenn nicht… Geisterglaube und Naturgötterverehrung, so faszinierend indigene Kultur sein kann, es gibt Grenzen, in denen die europäische Denkweise nicht mehr mit ihr umgehen kann. Genauso wie es mir schwer fällt, ohne empörten Kommentar zu erfahren, dass eine Bestrafung in Amazonien daraus bestand, Übeltäter an den Baum der Feuerameisen zu binden, dessen Bewohner nicht ohne Grund ihren Namen tragen. Einige überlebten den Schmerz nicht. Ich schüttele mich. Es kratzt an meinem Gewissen, steht symbolisch für den Konflikt, den wohl Jeder in sich trägt, der länger im Ausland lebt, gerade dann wenn es sich um Entwicklungsländer oder Krisengebiete handelt. Wie viel akzeptiere ich? Was kann ich mit mir vereinbaren? Was darf ich überhaupt kritisieren? Eine schmale Gradwanderung. Als würde die Umgebung meine angestrengtes Nachdenken, mein konzentriertes Schweigen unterstützen und teilen wollen, wird es merklich gespenstisch stiller um mich herum. Selbst die munteren Papageien halten den Schnabel. Eine eigenartige Spannung liegt in der Luft. Im nächsten Moment bin ich nass. Es schüttet. Regenzeit. Dunkle Wolken aus dem Osten gießen den Amazonas über uns aus. Glücklicherweise habe ich meine Jacke dabei. Ich schaue nach vorne. Jimmy, Chaco und meinem Vater bleiben nur die Palmblätter als Schutz, eine wahrhaftige Dschungelexpedition. Der Abstieg wird in reißenden, den Hügel hinunterstürzenden Wassermassen beschwerlich und gefährlich. Unseren Anführer und Urwaldexperten Jimmy legt es gleich mehrmals hin und zerfetzt es gar einen Flip-Flop, sodass er nach dem dritten Ganzkörpermatschkontakt frustriert beschließt, sich hinzusetzen und mit dem Schlamm hinabspülen zu lassen. So schnell der Guss gekommen war, so plötzlich hört er auf. Schlagartig verdrängt ihn die Sonne, der blaue Himmel macht sich breit und mit ihr kommt die Hitze zurück, schwül und erdrückend. Die T-Shirts, vom Gewitter durchnässt, werden binnen Sekundenschnelle getrocknet und im sprichwörtlich fließenden Übergang sofort wieder von innen bewässert. Wir folgen Jimmy, der fortwährend stehen bleibt und sich umsieht. Der Regen hat die Wege überspült. Voranzukommen wird immer beschwerlicher und beschwerlicher. Meine Schuhe stehen unter Wasser, an meiner bleiernen Kleidung klebt Dreck und Erde. Es bleibt uns keine andere Wahl mehr, wir nehmen den Weg querfeldein, durch das Dickicht des Dschungels. Erneut ist es die Machete, die uns zum entscheidenden Erfolg verhilft, auch wenn selbst sie uns nicht davor bewahren konnte, zwei Male gefangen von undurchdringlichen Wucherungen, von Lianen und Büschen umzukehren und es an einer anderen Stelle erneut zu versuchen. Spaßes halber ziehe ich mein Taschenmesser und mit dem Leatherman bewaffnet bahne ich mir hinter Jimmy und meinem Vater eine freie Bahn durch das grüne Netz. Wir werden zerrissen von Dornen, geschnitten von peitschenden Zweigen und gehalten von schlingenartigen Lianen, aber wir kommen durch, erreichen einen lichteren Teil des Waldes. Eine ganze Menge Lärm haben wir gemacht, uns so hatten wir andere Geräusche kaum bemerkt. Erschrocken horchen wir auf, als die Machete stillschweigt, lauschen dem Knacken, Schnaufen und Grunzen wenige Meter von uns entfernt. Jimmy zögert nicht lang. Mit einer Handbewegung gibt er uns zu verstehen, ihm zu folgen. Geduckt pirschen wir uns an, schieben langsam Blätter zur Seite, huschen von Baum zu Baum, stets auf unsere Deckung bedacht und bemüht in dem aussichtlosen Vorsatz, ohne einen Laut über den von Zweigen, Laub und Früchten bedeckten Waldboden zu schweben. Ich fühle mich wie auf der Jagd. Mein Vater ist gute zehn Meter rechts von mir. Jimmy eher weiter links, aber weiter vorne. Alle drei wagen wir kaum zu atmen. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Einen Schritt vor den nächsten, die Fußsohle langsam und vorsichtig abgerollt, den Blick angestrengt in den Blattwuchs vor mir gerichtet, die Ohren gespitzt, die Nase in den Wind gereckt, kurz alle Sinne geschärft. Immer wieder stapfe ich durch zerwühlte Erde. Der Gestank wird intensiver. Meine Muskel sind angespannt, meine Nackenhaare sträuben sich und dann sehe ich sie. Klein, schwarz, eine rosa-graue Schnauze, kurze Ohren, kurze Hauer. Picaris, Dschungelwildschweine. Ich kann sie fast nur erahnen, in dem Wirrwarr aus Pflanzen, will näher heran, nur ein Stückchen, noch ein bisschen… Knacks. Scheiße. Die Tiere springen in panischer Angst auf, rasen davon, nein, der ganze Boden um mich rast davon. Überall quiekt und rennt es. Zweige brechen, Gräser und Farne werden niedergetrampelt. 50 Tiere auf der Flucht. Wir waren mittendrin in der Herde ohne es zu bemerken. Ich muss daran denken, wie es die süßen Viecher mit einem ausgewachsenen Leoparden aufnehmen, jage ihnen allerdings offensichtlich mehr Angst ein als der König des Dschungels. Leider wird uns bei diesem keine Audienz gegönnt, wir bekommen ihn nicht zu Gesicht. Selbst Jimmy war dieses wohl einzigartige Erlebnis erst zwei Mal beschieden, aber auch ohne das majestätische Tier an jenem Tag gesehen zu haben, verfolgt mich in dieser letzten Nacht im Parque Madidi der Regenwald bis in meine Träume.
Es hing noch der Nebel in den Bäumen und Hügeln, als wir am darauffolgenden Morgen früh nach Rurrenabaque zurückkehrten. Als würde er die Wunder, die er uns Preis gegeben hat, wieder verstecken wollen, lag über dem Dschungel der weiße Schleier, mystisch und geheimnisvoll. Er bedeckte die wertvollen und sonderbaren Naturschätze des Nationalparks Madidi. Wehmütig sah ich ihn hinter den Wellen unseres Bootes in den Schwaden verschwinden, doch meine Reise sollte weitergehen und so lag das Ziel meines Vaters und mir heute woanders, flussabwärts, Richtung Amazonas.
Von Rurrenabaque aus rasen wir über eine holprige und sandige Piste, schnurgerade mündet sie direkt in den dünn besiedelten Norden Boliviens, die einzige Verbindungsstraße. Große Busse und lange LKW’s kommen uns schaukelnd entgegen, mit langen Staubfahnen hinter sich. Dann wieder ein ganz anderes Bild. Bauern mit Cowboyhüten auf Pferden neben ihrer Kuhherde einher trabend. Die Landschaft ist flach. Viel Gras, niedrige, breite Laubbäume. Savannenähnlich, aber zu feucht, zu grün. Vor uns taucht ein Auto am Wegesrand auf. Ein Riss in der Achse, ein Rad steht schief. Der Van ist voll mit Touristen. Junge Amerikaner, die als Englischlehrer an Schulen in Quito, Ecuador sich eine goldene Nase verdienen. Derart habe ich bereits viele gesehen und angemessen zu schätzen gelernt; wenig Aufwand, gutes Gehalt und ein freizügiges Leben. Ein Freiwilligendienst mit finanziellem Bonus quasi? Ich kann einen solchen Vorwurf gut verstehen.
Ich könnte jetzt noch ausführlich weiterberichten von dem Sumpfgebiet und Naturreservat Las Pampas. Von den regungslosen, pechschwarzen Wassern, in denen ich mit rosaroten Flussdelfine schwimmen und herumtollen konnte, und in denen sich die Bäume im warmen orangeroten Licht der untergehenden Sonne auf unglaublich zerbrechliche und magische Art und Weise spiegeln. Oder von den Horden von Moskitos, die meinen Tropenmedizinervater gekleidet in unvorteilhaftes Schwarz und erkennbar an einem ausladenden Albert-Schweizer-Forscher-Hut trotz des Anblicks fantastischer Papageien und Urzeitvögel, eindrucksvoller Eisvögel und Reiher, sowie majestätischer Eulen und Greifvögel unter zusehends schwindender Begeisterung über stechende und krankheitsübertragende Insekten zu der Aussage „Ich möchte einfach nur noch ins Bett und mich in aller Ruhe sattkratzen“ verleitete. Von den im Dunkeln der Nacht am dichtbewachsenen Ufer im Taschenlampenlicht aufblitzenden rubinroten Kaimanaugen könnte ich schreiben, oder von den Brüll-, Kapuziner- oder Totenkopfaffen, von denen sich letztere es sich nicht nehmen ließen, meinen von weit her angereisten Vater mit herzlichem, wenn auch vermutlich ungewollten Körperkontakt in Empfang zu nehmen. Könnte die Landschaft beschreiben, die ewigen grünen Gras- und Sumpfflächen, über denen Schwärme schneeweißer Reiher anmutig die Lüfte besteigen, die Uferböschungen, in deren dichten Blätterwerk nur die geübten Augen von Jimmy die überwältigende Fülle an Leben auszumachen vermögen, die Regenbögen, die sich bunt über die Szenerie ziehen, als wollten sie den ersten Eindruck von einem Paradies bekräftigen. Könnte von dem dekadenten Frühstück bestehend aus Gebäck, Kaffee und Tee erzählen, dass mein Vater und ich an unserem letzten gemeinsamen Morgen auf den schnurbespannten Sitzen unseres Flussbootes im Sonnenaufgang in unmittelbarer Umgebung ungebändigter Natur einnehmen. Von dem neuen Geschwindigkeitsrekord des Fahrers auf dem Rückweg, um den letztendlich verspäteten Flug zu erreichen, und dem begeisterten Aufschrei Jimmys und der plötzlichen schlitternden Vollbremse, als ein Ameisenbär zu unserer Rechten im Gras auftaucht. Schließlich von dem Moment des Abschieds am Flughafen von Rurrenabaque und den letzten Worten, die wir gewechselt haben, bevor wir uns ein letztes Mal umarmt und für die nächsten acht Monate Lebwohl gesagt haben. Oder von der schaukeligen halben Stunde puren Steigfluges nach La Paz an der Seite eines leider höchst gesprächsfreudigen Franzosen und von meinem schmerzenden Kopf, meinem rumorenden Magen bei der Landung auf knapp 4000m. Oder von der ersten Nacht in der Andenstadt in dem Hause der gastfreundlichen Familie einer bolivianischen Freundin, von den Pfannkuchen und ihrer dreijährigen Schwester, die mit „Deine Augen sind so tief wie der Titicaca-See“ mein Herz eroberte. Schlussendlich von meinem Höhenkrankheitsanfall, von Blutdruck 130 zu 110 und den etwas beunruhigend wirkungsvollen Medikamenten, von dem restlichen ruhig verbrachten Tag im Cine-Center der Millionenstadt und dem Silvesterabendessen in der Familie, bevor ich Lewin, Eva und den Rest treffen sollte. Von einer voll erfüllten Woche also.
Aber meine Schilderungen von wilden Abenteuern im Dschungel, in der Savanne und in der Großstadt, von spannenden und tiefen Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Ecken des wunderschönen Boliviens und unglaublichen, ja fast unerhörten Erlebnissen, die einem Jahr hemmungslosen Urlaub und einem vollkommen rücksichtslosen und ungezügelten Freigeistleben ähnlicher sehen, als einem wirkungsvollen, nachhaltigen und disziplinierten Freiwilligendienst, müssen so wohl manchmal den Eindruck erwecken, dass wir die Zeit, die uns gebunden an eine verantwortungsvolle Aufgabe geschenkt wurde, egoistisch und zur eigenen Vergnügung missbrauchen, die Aufgabe eines entwicklungspolitischen Freiwilligendienstes im Auftrag Deutschlands und humanitärer Nichtregierungsorganisationen, in meinem Fall im Hogar Teresa de los Andes in Cotoca, Santa Cruz, Bolivien. Abgesehen davon, dass wir auch ein Recht auf Vergnügung haben, gehört die Entdeckung des Landes, Südamerikas und der Kultur jedoch meiner Meinung nach mit zu den Pflichten, die ich als Freiwilliger zu erfüllen habe. Ich will mir große Mühe geben, mein Bestes geben, in dem Jahr, das ich auf der anderen Seite des Atlantiks auf einem besonderen und unvergesslichen Kontinent verbringen darf, mein Gehirn zu füllen mit Erinnerungen und Erkenntnissen von fremden Kulturen, Lebensweisen, Landschaftsbildern und Naturwundern. Ich will so viel wie möglich davon importieren nach Deutschland, nach Europa, wo Menschen sich die Bedeutung des Wortes Entwicklungsland nur ansatzweise vorstellen können, wo ihre Probleme sich auf eine defekte Kaffeemaschine, eine zerbröckelnde Beziehung, einen stressigen Arbeitsplatz, nervigen Chef, Parkplatzmangel oder schlechtes Wetter beschränken. Ich halte mich nicht für einen wichtigen Botschafter, aber internationales Verständnis fängt in den Köpfen der kleinen Leute an und vielleicht kann ich – und das ist mein höchster Wunsch – durch meine Erzählungen die Denkweisen von wenigstens ein paar Menschen verändern, ihnen bewusst machen, dass es auf ihrem Planet, auf ihrer selbigen Welt Orte gibt, wo eine junge Mutter mit drei kleinen Kindern auf der Straße vom Betteln lebt, wo Drogenhandel oder -konsum das Leben von ganzen Familien zerstört hat, wo Kriminalität, Korruption und Gewalt jeden Tag aufs Neue das Verständnis von Menschenrechten und -würde gefährlich verschleiert, wo unbeschreiblich wertvolle Schätze der Natur profitgeilen Großkonzernen zum Opfer fallen, wo Rassismus und Hass unwiderruflich alte Kulturen und Traditionen zerstören, wo der Zugang zu guter Bildung das Privileg einer kleinen reichen Oberschicht ist, wo ein sechsjähriges Kind karge Felder bestellen muss oder sich ein Waise in engen, schmutzigen Gassen herumdrückt, herumspazierende europäische Touristen beklaut und mit Schuhputzen knapp dem Hungertod entkommt. Vielleicht ändert sich dann bei wenigstens ein paar Menschen die Sicht auf das eigene Leben und sie lernen zu schätzen, was ihnen zuteil ist, lernen abzugeben oder zu verzichten. Ich für meinen Teil erhoffe mir sehr eine neue Dankbarkeit und Lebensfreude, eine besondere Rücksicht und Verantwortung eine umsichtige Generosität und Umgangsweise zu entdecken und zu behalten. Wenn etwas davon auf andere abstrahlen kann, umso besser. Nichtsdestotrotz stelle ich mir hier nicht selten die kritische und bedrückende Frage, wie sinnvoll mein Freiwilligendienst im Hogar Teresa de los Andes wirklich ist. Ob meine tägliche Unterstützung der Pfleger, der Zahnärztin, der Physiotherapeutinnen nicht vielleicht völlig unnötig und überflüssig ist, ob ich nicht eigentlich nur ein Tropfen auf einen heißen Stein bin, zumal dann wenn Projektideen und Einbringungsvorschläge abgelehnt werden.
Dann aber denke ich an Susis strahlende Augen und ihr kehliges Lachen, wenn ich sie aus dem Bett hebe und in die Luft schleudere, an die Motivation von Luis, dem ich seit kurzem, wie auch der Zahnärztin, einen Basisenglischunterricht gebe oder an die hemmungslosen Späße und Witze, die einigen Hospitalmitarbeitern und mir mindestens einmal die Woche die Tränen in die Augen treiben. Ich erinnere mich an unser Renovierungsmaßnahmen des Heimgrabes auf dem Friedhof und die tiefe, zufriedene Anerkennung, die die Koordinatorin Beatrice mit einer festen Umarmung aus sich herausdrückte, an die Begeisterung im Gesicht von Reynaldo über die ersten erfolgreichen Bastelarbeiten, an die merkliche Dankbarkeit von Juan-Carlos für etwas Zuwendung, an die Freude von unserer mittlerweile 18-jährigen, momentan arbeitslosen Freundin Fabiola, Mutter eines einjährigen Sohnes über einen gemeinsamen Ausflug ins Kino oder an ein ungemein tiefsinniges Gespräch mit einem einfachen Taxifahrer aus La Paz. Und dann realisiere ich, dass wir in der Zeit, in diesem einen Jahr, in dem wir im Hogar arbeiten und in Bolivien leben mehr als nur Tropfen auf heißen Steinen waren, dass wir drei Tropfen es schaffen können, dass dieser Stein sich zumindest etwas abkühlt und wir, wenn wir aus dem Jahr lernen, eventuell nie wieder um uns herum einen Stein heiß lassen und vielleicht andere Menschen dazu animieren, füreinander auch mal ein kühler Tropfen zu sein, ein kühler Tropfen auf einem heißen Stein.